Jacques Chessex: Der Kinderfresser. Lenos TB. 248 S., Fr. 20.90

Joël Dicker: Un animal sauvage. Editions Rosie & Wolfe. 397 S., Fr. 29.90

Yves Laplace:Vie de l’auteur, idiot. Editions d’en bas. 414 S., Fr. 35.–

Als erster Schweizer hatte Jacques Chessex 1973 für seinen Roman «Der Kinderfresser» den Prix Goncourt bekommen. Wie sein Vorbild Gustave Flaubert, an den der Waadtländer mit seinem Schnauz auch äusserlich erinnerte, pflegte er den Kult des Schreibens und des Leidens der Dichter an den Frauen. «Der Kinderfresser» ist die Geschichte des Lateinlehrers Jean Calmet im lebenslänglichen Überlebenskampf gegen die Schatten des übermächtigen Vaters, der seine erste Freundin entjungfert hatte. Die Sätze des Dichters sind von intensiver Sinnlichkeit. Es geht um verbotene Lust und männliches Versagen. Der Roman mit einer Prise Pädophilie und Faschismus ist durchdrungen von Schuldgefühlen und Todesbesessenheit.

In «Mona» ist die Hauptfigur ein angesehener Lausanner Rechtsanwalt, der im Alter von 55 Jahren einem Model verfällt. Bis in intimste Details beschreibt der Dichter in diesem Voyeur-Roman die Mona Lisa der Literatur. Heute ist dieser Blick auch in seiner raffiniertesten ästhetischen Verfeinerung verpönt als «male gaze».

 

Freundschaft gegen den Strom

Nach den jungen Frauen in seinem Leben und Schreiben befragte ein Besucher den Dichter anlässlich einer Lesung in Yverdon. Es war am 9. Oktober 2009. Die Schweiz hatte gerade Roman Polanski verhaftet, den Chessex verteidigte. Er redete sich in Rage und brach tot zusammen. Die Anteilnahme war gewaltig, die Waadtländer verehrten Chessex als ihren Schriftheiligen. Sein Leichnam wurde in einer Kapelle aufgebahrt. Hunderte von Lesern erwiesen ihm in der Kathedrale von Lausanne die letzte Ehre. Der Pariser Figaro würdigte ihn als einen «genialen Dichter». Zur postumen Veröffentlichung hinterliess der Verstorbene eine Beichte: «Interrogatoire». Seine letzten Themen waren das Trinken, die Eifersucht und das Masturbieren. Und der Suizid seines Vaters.

Es ist üblich, dass Schriftsteller ins Fegefeuer kommen und ihr Werk der Vergessenheit anheimfällt. In den meisten Fällen bleibt es dabei. Für Chessex war das Purgatorium eine Schonfrist. Jetzt geht es in die Hölle. «Ein Werk ohne Zukunft», bescheinigt ihm die Lausanner Literaturzeitschrift Le Persil. Daniel Maggetti zweifelt, «dass die Erzählungen, in denen die religiöse Dimension eine zentrale Rolle spielt, bei der zeitgenössischen Jugend auf Gehör stossen» – dies ist offenbar das neue Kriterium für literarische Qualität und Ewigkeit. Tatsächlich verstören den Schriftsteller Maxime Sacchetto, 28, die «sexistischen und lüsternen» Passagen.

Es ist üblich, dass Schriftsteller ins Fegefeuer kommen und ihr Werk der Vergessenheit anheimfällt.

Silvia Ricci Lempen weitete die kollektive Abkanzelung auf die Qualitätszeitung Le Temps aus: «Naiv» sei die Unterscheidung «zwischen dem Mann und dem Werk». Bei Typen wie Chessex hätten wir es mit Männern zu tun, die in ihrem «privaten und öffentlichen Leben wenig respektable Individuen» seien. «Unsere Kultur ist durchtränkt von Sexismus, Rassismus, Kolonialismus», Chessex’ Romane seien «moralisch unakzeptabel». Ein Fall für die Zensur, die aber gar nicht mehr mobilisiert werden müsse: «Die Kinderfresser können ihre Zähne durch Überalterung und ohne Bücherverbrennung verlieren.»

Wokeness versteht sich als Entlarvung von Macht. Den Vorwurf ihres Missbrauchs erhob die Tribune de Genève gegen den «Taktiker und Strategen» Chessex. Seinen Erfolg habe er weitgehend seinen Machenschaften zu verdanken. Seinen Einfluss habe er geltend gemacht, um Westschweizer Rivalen den Durchbruch in Paris zu vereiteln. Tapfer hat sich Anne-Sylvie Sprenger, die Chefredaktorin der protestantischen Nachrichtenagentur Protestinfo, gegen den Strom, zu ihrer Freundschaft und Wesensverwandtschaft mit Chessex bekannt – der ihre Romane nach Paris vermittelte.

Nach dem Tod des Übervaters ist dem Genfer Joël Dicker der Durchbruch auf spektakuläre Weise geglückt. Für Homestorys reisen nun die französischen Journalisten nach Genf. Die Stadt ist Schauplatz seines neuesten Romans «Un animal sauvage». Erschienen ist er im Verlag, den Dicker in Genf gründete. Ein Walliser Supermarkt verkaufte ihn stapelweise im Rayon für Gemüse, und dafür muss der Schriftsteller, der seine Honorare in die Literatur investiert, büssen wie Chessex für seine Sünden.

«Ein Leser von Dicker ist nicht ein Leser, der für die Literatur gewonnen wird», urteilt Pierre Crevoisier, Schriftsteller und Verleger zugleich: Er sei ein Leser wie ein «Burger-Fresser bei McDo». Als «Feinschmecker» hält ihn Crevoisier für verloren, denn «Fastfood ist keine Schule des Geschmacks». Dickers Romane «genügen sich selbst» und machten «keinen Hunger auf andere Welten». Schlimmer noch: Sie verdrängten die «Bücher mit Sätzen, die sich nicht auf Subjekt und Prädikat beschränken». Und bei Veranstaltungen würden sie deren Autoren die Aufmerksamkeit stehlen, «ich habe es mehrfach erlebt».

Einen faszinierenden Einblick in ein halbes Jahrhundert internationaler Debatten und in seine eigene Existenz als freier Schriftsteller in Genf eröffnet Yves Laplace. Sein «Vie de l’auteur, idiot» ist ein einzigartiges Werk, in dem Laplace, Jahrgang 1958, Autor von mehreren Dutzend Romanen und Dramen, seine Anfänge dokumentiert. Laplace war frühreif und Autodidakt. Er publizierte die Briefe von Bertil Galland, dem welschen Chessex-Verleger, der ihm versprochen hatte, seinen Erstling «Le garrot» zu verlegen, und wortbrüchig wurde. «Le garrot» erschien dann in einem renommierten Pariser Verlag – wie alle seine Romane seither. Laplace schreibt regelmässig Kolumnen und Kritiken. Seinen ersten Artikel veröffentlichte er im Alter von siebzehn Jahren – über Alexander Solschenizyns «Archipel Gulag»: Dessen «Vision» hält der Jungspund für «falsch und politisch schädlich». Laplace geisselt Solschenizyns «Aneignung» und «Instrumentalisierung» durch die Rechte, für die er ihn «weitgehend verantwortlich» macht, die er aber gleichwohl «nicht verdient» habe.

Es brauchte einigen Mut, diesen Text erneut zu publizieren. Er zeugt von der Aufrichtigkeit des Autors, der sich und seine Essays ernst nimmt, aber nicht schont. Nach Solschenizyn befasste sich Laplace mit Marguerite Duras, Maurice Blanchot, André Glucksmann. Alle Artikel werden durch ein «nota bene» ergänzt. Genauso aufschlussreich sind die Artikel über weniger prominente Autoren. Entstanden ist die faszinierende Retrospektive einer Epoche, die jetzt unter dem prägenden Eindruck von Putins Angriff auf die Ukraine kommentiert wird.

Laplace war einer der frühesten Kritiker von Tariq Ramadan, der die Aufführung seiner Bearbeitung von Voltaires Stück «Mahomet» verhinderte. Mit Peter Handke und dem aus Jugoslawien stammenden Verleger Vladimir Dimitrijevic legte sich Laplace während des Balkankriegs an. Sein schwieriges literarisches Werk ist das subversivste und radikalste der Westschweizer Gegenwartsliteratur und eine permanente Provokation der politischen und sexuellen Korrektheit. Laplace thematisiert Obsessionen und Tabus mit einem Bezug zum Faschismus.

 

Urkomisch und unheimlich

In «L’inseminateur» nennt er seine Hauptfigur Aloys – so hiess Hitlers Vater – Vonplatz: eine Verdeutschung von Laplace. Vonplatz wurde 1933 geboren, ist Arzt und Spezialist für künstliche Befruchtung, bei der er sein eigenes Sperma verwendet. Später machte Laplace den Genfer Faschisten Georges Oltramare und in «L’Execrable» (2020) den in Cortaillod geborenen, von der Résistance erschossenen Anthropologen und Antisemiten George Montandon zu Figuren eines Romans, in denen es stets um den Autor Y. L. geht.

Montandon, der eine Zeitlang in Zürich gewirkt hatte, war Verfasser der Rassistenfibel «Wie man einen Juden erkennt» und an der Pariser Juden-Ausstellung beteiligt. Der autobiografische Roman enthält urkomische Szenen: der Amateurschiedsrichter Laplace pfeift in Carouge ein Spiel mit einem Säckchen Asche seines Vaters in der Tasche. Auch zu einem lokalen Mordfall stellt Laplace eine persönliche Verbindung her. «L’Execrable» ist der Roman der ersten Generation von Verschonten, deren ideologische Obsession die Herstellung eines existenziellen Bezugs zum Grauen des Kriegs und der Geschichte ist. «Noch lange», schliesst Laplace, «wird mich Montandon am Schlafen hindern»: Nicht als Aneignung – «metaphorisch» sei das zu verstehen, erwiderte er auf die etwas irritierte Nachfrage.

Seinem «Vie de l’auteur, idiot» hat er das berühmte Zitat des italienischen Philosophen Antonio Gramsci vorangestellt: «Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.» Sie bevölkern die Literatur von Laplace und Chessex, der sein letztes Werk der vergessenen Ermordung eines jüdischen Viehhändlers in Payerne gewidmet hatte: «Un juif pour l’exemple». Dieses kleine Meisterwerk zitiert der Schriftsteller Metin Arditi in seinem Plädoyer zur Ehrenrettung des gecancelten Dichters: «Bei der Stelle in der Metzgerei begannen meine Kleider nach Fleisch und Wurst zu riechen. Jacques Chessex war einer der grössten Stilisten seiner Zeit. Wir müssen ihn am Leben erhalten. Um ein Exempel zu statuieren.» Gegen den im Welschland grassierenden Wokeness-Wahn.