New York

Seit ein paar Jahren taumelt die westliche Welt von einer Sexpanik in die nächste. Gemeint ist eine medial befeuerte Massenpsychose der vornehmlich weissen Mittelklasse, die Sex nicht als das zu sehen vermag, was es ist: nie ganz schön und nie ganz schlecht. Stattdessen gilt Sex als nur gut oder rein böse, so wie in billigen Märchen. Wobei das Böse an einem bestimmten Typus festgemacht wird: meist an alten, hässlichen, homosexuellen oder farbigen Männern, seltener Frauen. Manchmal sind diese Monster, wie sie ungeniert genannt werden, tatsächlich schuldig, manchmal aber auch nicht oder nicht in dem Masse, wie es eine enthemmte Öffentlichkeit glauben will. Sicher ist nur: Diese Monster sind gesellschaftlich erledigt.

Sexpaniken sind vor allem für die USA typisch. Erinnern wir uns an die Ausgrenzung von HIV-positiven Menschen in den achtziger Jahren. Oder an die Anschuldigungen gegen Michael Jackson und Woody Allen (beide freigesprochen). Oder an die Vorwürfe gegen Kevin Spacey, James Levine und Avital Ronell (alle freigesprochen). Und ja, erinnern wir uns an den Prozess gegen Harvey Weinstein, der 2020 trotz des von seinen Anwälten konstatierten Mangels an forensischen Beweisen zu 23 Jahren Haft verurteilt wurde.

 

Annullierung der Unschuldsvermutung

Es lohnt sich, den Fall Weinstein genauer zu betrachten. Denn er betraf auch gänzlich Unschuldige wie Ronald Sullivan, einen Afroamerikaner und Harvard-Professor. Nachdem Weinstein den renommierten Rechtsgelehrten in sein Verteidigungsteam berufen hatte, kam es an der ältesten Hochschule des Landes zum Aufstand. Am Ende legte Sullivan sein Mandat nieder. Trotzdem wurde er als Dekan der Law School gefeuert. Die Studentenzeitung Crimson feierte die Annullierung der Unschuldsvermutung und des Rechts auf eine angemessene Verteidigung als Sieg im Kampf gegen die «Kultur der Vergewaltigung».

«Sobald das Sex-Gespenst auftaucht, wird alles – ein Blick, eine Haltung, ein Schulterklopfen – sexuell.»

Die angesehensten Zeitungen des Landes beteiligten sich an dieser öffentlichen Aburteilung. Die New York Times zeigte unter dem Titel «The Lessons of #MeToo’s Monster» die schwarze Silhouette von Weinsteins Kopf. Dort, wo der Mund sein sollte, prangten Vampirfänge in der Form eines Sofas (in Anspielung auf die Casting-Couch). Obwohl zu keiner Zeit «physische oder andere stützende Beweise» für Weinsteins Schuld nachgewiesen werden konnten, pries die New York Times Weinsteins disproportional hohe Haftstrafe von 23 Jahren, während die Illustration einmal mehr den primitiven Gut-böse-Schematismus von #MeToo veranschaulichte.

Längst hatte eine wahre Raserei die amerikanische Öffentlichkeit erfasst. Weinstein wurde als «Hexe im Lebkuchenhaus» beschrieben, als «haarig», voller «widerlicher Mitesser», «nach Scheisse riechend», vor Gericht als penislos und mit Vagina dargestellt, übergross als Nacktaufnahme an die Wand geworfen. Dieses body shaming evozierte – unbemerkt? – einen antisemitischen Topos, dessen Anfänge in Ritualmordlegenden liegen. Die männliche «Judensau», so heisst es in Traktaten des europäischen Mittelalters, sei ein menstruierendes Zwitterwesen, das nach den Körpern junger Christinnen giere, an denen es seine perversen Gelüste ausleben könne.

Sexpaniken sind soziale Eruptionen. Sie folgen einer magischen, primitiven, assoziativen Logik. «Sobald das Sex-Gespenst auftaucht», schreibt der Anthropologe Robert Lancaster, «wird alles – ein Blick, eine Haltung, ein Schulterklopfen – sexuell.» Wie im Fall des früheren New Yorker Gouverneurs Andrew Cuomo, den zahlreiche junge Frauen der sexuellen Belästigung bezichtigten. Keine der Frauen behauptete, Cuomo habe sich ihr körperlich zu sehr genähert oder es auch nur versucht. Er habe vielmehr – diese Interpretation legen mediale Zusammenfassungen nahe – tollpatschig geflirtet, ihnen im Vorbeigehen die Hand auf den Arm gelegt, manchmal kurz auf den Rücken. Äusserungen wie «Hey, kann ich dich auf die Wangen küssen» (zur Begrüssung auf einem Fest) oder «Hast du schon mal einen älteren Freund gehabt?» werden als eine Art sexueller Terror gedeutet. Nur schon im Umfeld des Gouverneurs zu arbeiten, so die New York Times, sei für Frauen der «schlimmste Platz auf Erden».

Die USA verfügen über das grösste Gefängnissystem der Welt, gelten als das gewalttätigste Land des Westens. Es ist daher passend, aber auch ironisch, dass ausgerechnet Liberale in die Rhetorik von Krieg und Zerstörung verfallen. So verglich die Schauspielerin Natalie Portman jene Männer, die Frauen nachstellen, mit Terroristen. Stimmen der Vernunft sind selten. Bevor Ronald Sullivan als Dekan der Harvard Law School gefeuert wurde, mahnte er: «Es ist wichtig, dass unbeliebte Angeklagte» – also Angeklagte, die als bösartig beschrieben werden – «ein faires Verfahren wie alle anderen erhalten, ja, es ist in ihrem Fall sogar besonders wichtig.»

 

Aufbauschen, auslöschen

Doch warum entgleisen Debatten um sexuelle Themen gerade in den USA in so unschöner Regelmässigkeit? Sexpaniken greifen Ängste auf, die mit dem amerikanischen Gründungsmythos zusammenhängen – der ewigen Bedrohung des Guten durch das Böse –, heute begleitet von medialen Überreaktionen und einer tief im amerikanischen Bewusstsein verankerten Reflexhandlung gegenüber gesellschaftlichen Abweichungen.

Dies hatte schon den Schriftsteller Nathaniel Hawthorne dazu gebracht, im jungen Amerika des frühen 19. Jahrhunderts alles andere als das Land der Freiheit zu sehen. In der Kurzgeschichte «The May-Pole of Merry Mount» und im Roman «Der scharlachrote Buchstabe» beschreibt Hawthorne den auch später von Philip Roth in Zusammenhang mit Sex, Religion, Politik oder «Rasse» festgestellten amerikanischen persecuting spirit: Unliebsames wird nicht angehört, sondern erst monströs aufgebauscht und dann ausgelöscht.