Der Nato-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius war nicht so geeint, wie von den Teilnehmern dargestellt. Ausserdem zeigte er zum ersten Mal, dass die Geduld mit der Ukraine und ihrem Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj Grenzen hat. Dies berichten übereinstimmend die britische Financial Times und die Washington Post.
Zorn habe vor allem Selenskjis Tweet ausgelöst, in dem er es als «absurd» bezeichnete, dass die Nato seinem Land keine konkrete Beitrittsperspektive eröffnen wolle. Über diese Frage seien unter den Verbündeten Meinungsverschiedenheiten ausgebrochen, schrieben die beiden Blätter. Balten und Osteuropäer wünschten eine robustere Haltung gegenüber der Ukraine, während vor allem die USA und Deutschland aus Sorge vor einer Eskalation des Konfliktes zur Mässigung rieten.
Biden, so die Washington Post, falle es zunehmend schwer, die Allianz zusammenzuhalten. Der mangelnde Erfolg der mit grossen Erwartungen angekündigten ukrainischen Offensive mache es noch schwieriger, weitere Zustimmung zu erhalten. Amerikas Sicherheitsberater Jake Sullivan betonte erneut, dass Moskaus Hoffnungen auf Risse im Bündnis verfehlt seien. Er fügte aber hinzu: «Einigkeit bedeutet nicht, dass jeder Verbündete jedes Problem exakt gleich betrachtet.»
Vor allem aber, so die beiden Blätter weiter, habe man Kiew mangelnde Dankbarkeit für die militärische, finanzielle und humanitäre Hilfe der Partner vorgeworfen, die sich mittlerweile auf mehr als 170 Milliarden Dollar beläuft. Sei der Ärger zunächst nur hinter verschlossenen Türen artikuliert worden, so habe ihn der britische Verteidigungsminister Ben Wallace in einer Pressekonferenz öffentlich gemacht.
«Ob wir es wollen oder nicht, die Leute wollen Dankbarkeit sehen», sagte er vor den internationalen Medien. Die ständigen ukrainischen Wünsche nach immer mehr Waffen kommentierte er trocken: «Wissen Sie, wir sind nicht Amazon.»
Hinter seinen Bemerkungen stecken zwei Probleme: Wegen der Lieferungen an die Ukraine leeren sich westliche Waffenarsenale dramatisch. So hat die britische Armee keine eigenen Minenräumpanzer mehr. Ausserdem fällt es einigen Regierungen schwer, die andauernde Unterstützung gegenüber der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen.
Indirekt sprach auch Sicherheitsberater Sullivan dieses Thema an. Allerdings meinte er, die US-Regierung müsse dem amerikanischen Volk dafür dankbar sein, dass es weiterhin die Grosszügigkeit gegenüber der Ukraine unterstütze.
Selenskyj selbst zeigte sich von dem Vorwurf des Briten Wallace überrascht. «Ich wusste nicht, was er meinte», erklärte er. «Sollen wir jeden Morgen aufstehen und uns persönlich beim Minister bedanken. Ich verstehe nicht den Inhalt der Frage.» Doch offensichtlich habe man den Ukrainern während seines Aufenthaltes in Vilnius ins Gebet genommen, so die Financial Times. Denn 24 Stunden später habe man fast nur ein Wort von ihm gehört: Dankbar.