Auf dem Papier klingt es ja vernünftig, aus der sicheren Deckung hinter dem Bildschirm, und auch ich habe das geschrieben: Israel muss die Hamas zerstören. Was denn sonst? Wer sympathisiert schon mit einer ruchlosen islamistischen Killertruppe, die es darauf abgesehen hat, alle Juden umzubringen und den Staat Israel zu vernichten? Dass es die Hamas-Mörder ernst meinen, haben sie am 7. Oktober unmissverständlich gezeigt. Das war nicht einfach ein Terroranschlag. Das war ein sadistisches Massaker.

Doch über die entscheidende Frage habe auch ich mich kriegsgurgelnd hinweggeschrieben: Wie stellen wir uns die Zerstörung der Hamas konkret vor? Wie vernichtet man militärisch einen Feind, der auch eine Idee ist, die Idee des palästinensischen Widerstands gegen die israelischen Unterdrücker, des Davids gegen den nuklear bewaffneten Goliath, die Hamas, in den Augen ihrer Unterstützer, es scheinen immer mehr zu werden, eine Art Robin Hood der Entrechteten gegen Israel, diesen Aussenposten der US-Hegemonie im Nahen Osten? Kann man eine Idee wegbomben?

Das scheint der Plan der Israeli zu sein, sofern sie einen haben. Premier Netanjahu lässt den Norden Gazas gerade in eine Mondlandschaft zertrümmern. Die Bilder sind extrem verstörend. Auf den Bombenkrieg soll der Bodenkrieg folgen. Doch wie soll das gehen? Die Hamas hat auch dank westlicher Entwicklungshilfe ein Tunnel- und Bunkersystem angefertigt, einen Fuchsbau aus Beton, ganz Gaza unterkellert. Um leichtere Stellungen auszubrennen, setzten die Amerikaner in Vietnam Napalm und Flammenwerfer ein. Vergeblich. Hass gegen Hass, Terror gegen Terror: Ist das Netanjahus Rezept?

Israels Vernichtungskrieg gegen die Hamas könnte im Extremfall die Vernichtung Israels einleiten. Mit jeder Bombe, die einen palästinensischen Zivilisten tötet, Kinder, Frauen, Greise, steigt die Eskalationsgefahr. Der Nahe Osten ist ein Pulverfass, Kampfzone der Weltmächte seit Menschengedenken, Schauplatz biblischer Konflikte, Rohstoff-Mekka und Minenfeld der Geopolitik. Was diese Gegend so faszinierend und unheimlich macht, sind die Leidenschaften, die sie entfesselt, rätselhafte Energien, die den Menschen zum Höchsten oder aber in den Wahnsinn treiben können.

So sehr ich die Wut und den Zorn der Israeli verstehe, so besorgt bin ich, dass sie es jetzt übertreiben, dass sie sich vom Hass davonreissen lassen und immer noch mehr Hass dadurch erzeugen. Eigentlich müssten die Amerikaner jetzt mässigend eingreifen, doch die Weltmacht in Washington wirkt wie gelähmt, teilumnachtet, selber gefühlsgepeitscht und durchtobt von inneren Auseinandersetzungen, unfähig, unwillig, Konflikte zu entschärfen. Ganz im Gegenteil. In einer Mischung aus Überheblichkeit und greisenhafter Schwäche taumeln die Amerikaner von einem Krieg in den nächsten.

Das scheint mir heute die grösste Gefahr überhaupt. Der Westen übernimmt sich. Er überschätzt seine Stärke und unterschätzt die Stärke seiner Gegner, die oft nur deshalb seine Gegner sind, weil sie die Nase voll haben von der routinierten Arroganz der USA und ihrer europäischen Trabanten. Was, wenn die Chinesen, die Russen und die Iraner im Nahen Osten die Chance sehen, den Amerikanern endlich eine längst fällige Lektion zu erteilen? Oder, noch beunruhigender: Israels Vergeltungskrieg könnte eine Kettenreaktion auslösen, die, Eigenlogik der Gewalt, in einen Weltkrieg mündet.

Wer stoppt Netanjahus Ritt in die Apokalypse? Es ist weder Antisemitismus noch Israelfeindschaft, wenn man sich jetzt bemüht, auch diesen Krieg einzuhegen, auf eine politische Lösung zu drängen, denn letztlich ist dieser Krieg, wie jeder Krieg, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Einige Schreibtischstrategen rufen bereits zu einem neuen Kreuzzug gegen die Islamisten auf, zum Heiligen Krieg gegen das angebliche Weltübel aus dem Osten, so als ob der Westen verdammt wäre, die Dummheiten des Irak-Debakels immer und immer wieder zu wiederholen. 

Nein. Die Welt braucht keine weiteren lodernden Brennstäbe. Gefragt ist ein Abklingbecken, eine Therapiestation, die Spannungen abbaut, anstatt sie ständig anzupeitschen. Die Neutralen, allen voran die Schweiz, wenn sie denn noch wirklich neutral wäre, hätten hier eine wichtige Rolle. Seit einem Jahr schreibe ich dazu mehr oder weniger das Gleiche: Gerade Europa, dieser Kontinent der Verlierer, Friedhof einstiger Grossmächte, wäre bestimmt, anstatt den amerikanischen Kohorten blind zu folgen, vom Frieden zu reden. Niemand wäre glaubwürdiger – gerade in der nichtwestlichen Welt.

Vielleicht kommt alles auch ganz anders. Möglicherweise bringt gerade dieses neuerliche Gemetzel im Nahen Osten die Wende zum Guten. Der Blick in den Abgrund kann auch aufwecken. Denkbar ist, dass der Gaza-Krieg die verfeindeten Supermächte wieder an einen Tisch bringt, zum Verhandeln zwingt. Niemand will einen grossen Krieg, aber Kriege entstehen auch, wenn sie niemand will. Vertrauen wir auf die kollektive Weisheit der Völker, auf die wundersame Macht des Positiven. Die Menschheit hat keinen Todestrieb, zum Glück. Sie wird einen Ausweg finden. Hoffentlich.