Bern

Eines muss man Elisabeth Baume-Schneider lassen: Die Justizministerin lässt nichts anbrennen. Die neue Bundesrätin hat einen Blitzstart hingelegt, ist schon fast hyperaktiv. Fast täglich kommen aus dem Departement der Sozialdemokratin frische Nachrichten und Entscheide, mit denen sie ihren Kurs in der Asylpolitik festzurrt.

So hat die ehemalige Sozialarbeiterin beschlossen, dass ukrainische Jugendliche in der Schweiz eine Lehre anfangen und beenden können. Unabhängig davon, ob der Schutzstatus S bis zum Ende der Ausbildung gilt.

Kurz vorher informierten ihre Leute, dass vorläufig Aufgenommenen der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden soll. Zudem soll es ihnen leichter möglich sein, den Wohnsitz in einen anderen Kanton zu verlegen.

Auch nach der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien gab die 59-Jährige die Marschrichtung vor. Opfer mit Verwandten in der Schweiz sollen auf beschleunigtem Weg ein Visum erhalten.

«Soziale Migrationspolitik»

Gleichzeitig machte Baume-Schneider ihre Parteikollegin Regula Mader zur neuen Vizedirektorin des Staatssekretariats für Migration (SEM). Dort betreut Mader das Schlüsseldossier Migration und Integration. Davor hatte die bisherige Präsidentin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter als Präsidentin des Hauses der Religionen in Bern den Hut genommen. Im November wurde publik, dass ein Imam an diesem Ort des «Dialogs der Kulturen» (Eigenwerbung) muslimische Paare zwangsverheiratet hatte.

Wenige Wochen vor ihrem Wechsel ins Finanzdepartement hatte Karin Keller-Sutter bekannt gegeben, dass die Eidgenossenschaft das «Resettlement-Programm» zur Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge vorübergehend aussetzt. Die FDP-Bundesrätin argumentierte mit den ausgeschöpften Kapazitäten im Asylbereich.

Ihre Nachfolgerin will diesen Entscheid möglichst rasch wieder umstossen. Die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren signalisiert zwar Widerstand. Doch Baume-Schneider lässt nicht locker. Sie will rasch besonders verletzliche Flüchtlinge direkt aufnehmen. Die SP-Magistratin werde den Antrag bereits in den nächsten Wochen in die Landesregierung bringen, heisst es im Bundeshaus.

Mit ihrer Willkommenskultur hat Baume-Schneider die Asyl-Lobby auf den Geschmack gebracht.

Alle diese in kurzer Zeit gefassten Vorstösse und Entscheide haben die gleiche Stossrichtung: Das Leben von Asylbewerbern in der Schweiz soll verbessert und vereinfacht werden. Wenn die Jurassierin an der SP-Delegiertenversammlung Ende Februar in Freiburg eine «soziale Migrationspolitik» forderte und erklärte, Migranten hätten die Schweiz zu dem Land gemacht, das es heute sei, meint die Genossin das sehr wörtlich.

Clever über die Bande gespielt

Die Auswirkungen dieser Politik sind für Experten klar: Sie sprechen von sogenannten Pull-Faktoren. Das bedeutet, ein Land macht sich durch politische Massnahmen attraktiver für Zuwanderer und Flüchtlinge. Die Migranten sind heute bestens vernetzt. Sie informieren sich über solche Vorgänge und wählen ihre Ziele entsprechend aus.

Die Möglichkeit für junge Ukrainer, eine Lehre zu machen, ist ein typisches Beispiel dieser Politik. Im Moment kann jede Person aus der Ukraine, die will oder mag, in die Schweiz kommen. Als Unbekannte galt bisher, wie lange der Schutzstatus S gilt. Es ist unklar, was mit den Menschen passiert, wenn dieser Status eines Tages aufgehoben wird.

Mit ihrer Anordnung hat Baume-Schneider diese Variable auf einen Schlag relativiert und für die Betroffenen gar beseitigt. Eltern mit Kindern aus der Ukraine wissen nun, dass ihr Nachwuchs in der Schweiz garantiert eine Ausbildung absolvieren kann. Unabhängig davon, wann der Krieg in der Heimat endet.

Gleichzeitig weckt dies neue Begehrlichkeiten. SP-Nationalrätin Samira Marti verlangt bereits, dass auch abgewiesene Asylbewerber und Sans-Papiers dieselben Rechte erhalten. Linke Staatskunst im Flüchtlingswesen, clever über die Bande gespielt. Dieser Beschluss kommt just zu einem Zeitpunkt, in dem Staaten in Osteuropa ihr soziales Leistungsangebot für Ukrainerinnen und Ukrainer einschränken.

Die Zahlen zeigen, dass der Zustrom anhält. 426 Personen stellten vom 24. Februar bis zum 3. März ein Gesuch, den Schutzstatus S zu erhalten. Damit haben bald 80.000 Ukrainerinnen und Ukrainer einen Antrag gestellt – gemessen an der Einwohnerzahl der Schweiz ein Spitzenwert in Europa.

Dabei ächzt die hiesige Bevölkerung schon heute unter dem Ansturm von Flüchtlingen. Die Ukrainer nicht mit eingerechnet, stellten im Januar 2523 Personen ein Asylgesuch. 1077 mehr als im Vorjahresmonat. Bis Ende Jahr rechnen die Leute von Baume-Schneider mit bis zu 40.000 Gesuchen.

Zum Vergleich: Grossbritannien hat siebenmal mehr Einwohner als die Schweiz. Im vergangenen Jahr sind 45.000 Flüchtlinge per Boot an der Südküste angekommen. 90 Prozent von ihnen beantragten Asyl. Premierminister Rishi Sunak will diese Gesuche künftig grundsätzlich ablehnen: «Genug ist genug.»

Migranten hätten die Schweiz zu dem Land gemacht, das es heute sei, sagt die Sozialdemokratin.

Auch in der Schweiz gärt’s. In Zürich, Windisch oder Seegräben müssen Mieter ihre Wohnungen verlassen, um Platz für Asylbewerber zu machen. Die Kosten für die Allgemeinheit sind enorm. Für die Flüchtlinge aus der Ukraine und anderen Staaten hat der Bund die astronomische Summe von mehr als 6 Milliarden Franken für 2023 budgetiert. Das bei veranschlagten Ausgaben von 86 Milliarden im laufenden Jahr.

Mit ihrer ausgeprägten Willkommenskultur hat Baume-Schneider auch die Asyl-Lobbyisten auf den Geschmack gebracht. In den letzten Wochen zogen Interessengruppen wie Solidarité sans frontières ein regelrechtes Powerplay auf. Ihre Absicht ist, dass die Schweiz auf Rückführungen von Migranten in Länder verzichtet, wo sie ihr ursprüngliches Asylgesuch stellten.

Im Fokus steht im Augenblick Kroatien. Personen, die in diesem EU-Staat bereits einen Antrag einreichten, dann weiterreisten und es in der Schweiz erneut versuchen, sollen hierbleiben können. Das Dublin-System solle wie im Fall von Griechenland ausser Kraft gesetzt werden. Grund sei, dass Kroatien «kein sicheres Land für Migranten» sei. Ähnliche Vorwürfe werden gegenüber Polen und Litauen erhoben.

Nachdem die Aktivisten bei Keller-Sutter noch kein Gehör gefunden hatten, will das SEM jetzt «in Kroatien Abklärungen zur menschenrechtlichen Situation treffen», wie Solidarité sans frontières nicht ohne Stolz festhält. Setzen sich die Asyl-Lobbyisten durch, ist dies ein weiterer Sargnagel im Dublin-Vertrag, der sich in der aktuellen Krise als untauglich erweist. Für Schutzsuchende wäre es ein weiteres Argument, in die Schweiz zu kommen.

Wien blockt ab

Das missratene, defekte EU-Abkommen ist nicht die einzige Baustelle. Eigentlich brennt es beim Migrationsdossier an allen Ecken und Enden. Es wäre ein Leichtes für Baume-Schneider, die Prioritäten anders zu setzen.

Seit Dezember weigert sich Italien, Flüchtlinge zurückzunehmen, angeblich wegen fehlender Kapazitäten. Doch die Schweizer Regierung verhält sich passiv und pocht nicht auf die Einhaltung der Verträge. Einzig ein unverbindlicher Brief auf Verwaltungsebene ging bisher nach Rom. Parlamentarier versuchen Baume-Schneider nun auf die Sprünge zu helfen. Der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller fordert den Bundesrat mit einem Vorstoss auf, dass die Justizministerin in Brüssel interveniert, damit sich der südliche Nachbar wieder an das Dublin-Abkommen hält.

Auch im Verhältnis mit Österreich bewegt sich nichts. Jeden Tag überqueren Dutzende von jungen Männern die Grenze zwischen den beiden Ländern. Es wäre im Interesse der Schweiz, mit dem östlichen Nachbarstaat ein Abkommen für die erleichterte Rückübernahme abzuschliessen. Damit wäre es möglich, diese Leute wieder nach Österreich zurückzuschieben. Doch Wien macht keine Anstalten, einen solchen Vertrag abzuschliessen. Von Seiten des Bundesrates gibt es ebenfalls keine bekannten Bemühungen, den unhaltbaren Zustand zu ändern.

Bürgerliche beginnen zu murren

Macht Baume-Schneider in diesem Tempo weiter und trimmt das SEM darauf, sich dahingehend auszurichten, die Schweiz als vorteilhafteren Standort für Flüchtlinge in Europa zu positionieren, dürfte ihre Politik rasch Resultate zeigen. Der Zustrom von Flüchtlingen wird sich weiter verstärken.

Wenig überraschend, zeigt man sich im Bundeshaus auf linker Seite begeistert vom Blitzstart der SP-Magistratin. Sie habe die Erwartungen in ihren ersten Wochen übertroffen, heisst es dort.

Umgekehrt hat das Murren bei den Bürgerlichen begonnen. Hinter vorgehaltener Hand fallen in den beiden Räten wenig vorteilhafte Einschätzungen, wenn die Sprache auf die Justizministerin kommt. Auch im Umfeld von Keller-Sutter sitzt der Frust tief. Die Freisinnige habe in jüngster Zeit den Kopf hingehalten, unpopuläre Entscheide gefällt und dafür viel Kritik einstecken müssen. Doch gegen aussen hält sich die Opposition bisher in Grenzen.