Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf der Plattform Haaretz. Die übersetzte Fassung publizierte erstmals das Online-Portal Globalbridge.
Giora Eiland ist einer der «denkenden Offiziere», die aus der IDF, den israelischen Streitkräften, hervorgegangen sind. Er wirkt sympathisch und ist wortgewandt, sein Auftreten ist von Mässigung und gesundem Urteilsvermögen geprägt. Er hat eine beeindruckende Militärkarriere hinter sich, war Leiter der Operations- und Planungsabteilung des Militärs und Chef des Nationalen Sicherheitsrats. Er wird oft interviewt und von der Arbeiterbewegung hochgeschätzt. Er ist nicht wortkarg und ignorant wie zum Beispiel Brigadegeneral Amir Avivi und nicht blutrünstig wie zum Beispiel Itamar Ben Gvir. Er ist ein Mann der politischen Mitte, der gemässigten Rechten.
Kein gesunder Mensch, der – wie Giora Eiland – sogar ein Buch über sein eigenes Leiden geschrieben hat, kommt aber auf eine Idee, wie Giora Eiland sie jetzt hatte: Epidemien in Gaza sind gut für Israel! «Schliesslich werden schwere Epidemien im Süden des Gazastreifens den Sieg Israels erleichtern und die Zahl der Todesopfer unter den IDF-Soldaten verringern», schrieb er diese Woche wörtlich in der Zeitung Jedi’oth Acharonot. Man muss nur darauf warten, dass die Töchter der Hamas-Führer an der Pest erkranken, und schon haben wir gewonnen.
Giora Eiland hat nicht näher ausgeführt, welche Seuchen er für Gaza empfiehlt: Pest, Furunkel oder Cholera, vielleicht einen Cocktail aus Pocken und Aids; vielleicht auch einfach den Hungertod für zwei Millionen Menschen. Alles wäre die Aussicht auf einen israelischen Sieg zu einem günstigen Preis! «Und nein, es ist keine Grausamkeit ihnen gegenüber», betonte er, als ob jemand so etwas hätte denken können. In Wirklichkeit sei es seltene Freundlichkeit und Menschlichkeit, da sie ja israelische Menschenleben retten würde.
Giora Eiland, mit diesem Vorschlag gleichzeitig in der Rolle von Mutter Theresa, in der Rolle eines Offiziers und eines Gentlemans in der moralischsten Armee der Welt, machte einen klaren Nazivorschlag – aber in der Bevölkerung brach trotzdem kein Sturm aus! Jeder, der Israel einen Völkermord unterstellt, ist halt einfach antisemitisch. Man stelle sich vor, ein europäischer General würde vorschlagen, ein Volk auszuhungern oder mit einer Epidemie zu töten – die Juden zum Beispiel! Man stelle sich vor, man würde andernorts eine Seuche verbreiten, weil das die Kriegsanstrengungen erleichtern würde! Im Krieg ist ja alles erlaubt, und jetzt ist es auch in Ordnung, alles vorzuschlagen, wovon man geträumt hat, aber es vorzuschlagen, wagte man bisher nie.
Die politische Korrektheit ist in Israel jetzt auf den Kopf gestellt worden. Jeder kann Meir Kahane sein (ein extremistischer orthodoxer Rabbi in New York, der für die Vertreibung der Nichtjuden auch aus den besetzten Gebieten und für eine jüdische Theokratie plädierte, Red.), aber niemand darf mehr ein Mensch, ein humanes Wesen sein. Jetzt ist es in Ordnung, einen Völkermord vorzuschlagen, aber falsch, die Kinder von Gaza zu bemitleiden. Jetzt ist es in Ordnung, eine ethnische Säuberung vorzuschlagen, aber es ist falsch, über die kollektive Bestrafung der Menschen im Gazastreifen schockiert zu sein.
Es ist nicht mehr nur die politische Rechte. Es ist jetzt der Mainstream. […] Das Ungeheuerliche ist zur Realität geworden. Die reine Teufelei ist in der Mitte der Gesellschaft und sogar links der Mitte angekommen. Noch ein oder zwei Kriege mehr, und alle werden wie Meir Kahane sein.
Noch haben wir uns nicht von der Brutalität der Hamas erholt, und schon werden wir mit solchen Vorschlägen überschwemmt – nicht nur von der extremen Rechten und den Siedlern, sondern aus dem Herzen der israelischen Mitte. Offensichtlich gibt es entsetzliche Grausamkeit, aber auch korrekte Grausamkeit. Die Hamas werden «Tiere» genannt, aber der israelische Vorschlag, absichtlich Krankheiten zu verbreiten, ist legitim. Eine der gefährlichsten Erscheinungen, die in diesem Krieg geboren wurden, entfaltet sich vor unseren Augen: die Normierung, Legalisierung und Normalisierung des Bösen.
Dieses Übel ist auf dem Boden der unglaublichen Missachtung und der pathologischen Gleichgültigkeit in Israel gegenüber dem, was jetzt in Gaza geschieht, gewachsen. Ausländische Journalisten, die hierherkommen, können ihren Augen nicht trauen: Das aktuelle Leiden in Gaza gibt es in der israelischen Öffentlichkeit nicht. Israel hat nicht Tausende von Kindern getötet und nicht eine Million Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Die Opfer von Gaza sind völlig aus dem Bild verschwunden, nicht nur aus dem öffentlichen Diskurs, sondern sogar aus den täglichen Nachrichten. Im israelischen Fernsehen, dem einzigen auf der Welt, haben wir keine Kinder getötet. Gemäss den israelischen Medien hat die IDF in diesem Krieg auch nicht das kleinste Kriegsverbrechen begangen.
Eine Gesellschaft, die sich so sehr über die Realität hinwegsetzt und dem Leiden der Nation, der sie den Krieg erklärt hat, so gleichgültig gegenübersteht, wirft moralische Verwerfungen auf, wie Giora Eiland eben eine geliefert hat. Man darf sicher sein, dass er selbst überzeugt ist, sein Vorschlag sei in keiner Weise verwerflich, er habe ja lediglich einen vernünftigen Vorschlag gemacht, der im Interesse Israels sei. Gibt es überhaupt noch Erwägungen ausser das Interesse Israels? Internationales Recht ist für die Schwachen, Moral für die Philosophen, Humanismus für die blutenden Herzen. Und wirklich, was ist falsch an einer Seuche in Gaza? Immerhin eines: Sie könnte auch Israel infizieren. In Tat und Wahrheit ist Israel schon heute verseucht.
Den Originaltext auf Englisch finden Sie in der Ausgabe der israelischen Zeitung Haaretz.
Zum Autor: Gideon Levy, ein Journalist und Mitherausgeber der israelischen Zeitung Haaretz, ist als Sohn von Eltern, die 1939 vor den Nazis aus der Tschechoslowakei über das Mittelmeer nach Israel flohen, bekannt für seine kritische Haltung gegenüber der israelischen Siedlungs- und Besatzungspolitik. Er zeichnet sich durch seine scharfe Kritik aus, beispielsweise in seiner Reaktion auf einen als heuchlerisch empfundenen «Liebesbrief» der ehemaligen US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, den er als schmeichelhaft verurteilte, weil er Israel in seiner Ansicht nach in eine verfehlte Politik drängte. Levy stellte neuerdings fest, dass die menschenverachtende Politik Israels gegenüber den Palästinensern nicht mehr nur von der politischen Rechten, sondern auch von der Mitte der israelischen Gesellschaft unterstützt wird. Sein Stil kann dabei auch als zynisch wahrgenommen werden.
Die Weltwoche hat keinen klaren Kompass in dieser Frage. Das Motto "jede Seite zu hören" zieht hier nicht. Grundlegende Informationen über die Staatsgründung, die Unabhängigkeitserklärung Israels sind ebenso wenig bekannt, wie die Charta der Hamas. Vielleicht macht es Sinn, die Zustände auf unseren Straßen in Berlin, 'Düsseldorf und anderswo zurate zu ziehen und sich zu sagen: Was Israel seit Jahrzehnten durchmacht, das droht auch uns.
Das Mittelalter läßt grüßen. Pest und Cholera, Hungertyphus, TBC usw. All dies ist altbekannt und war leider immer Folge rücksichtsloser Kämpfe. Besonders schlimm war es nach dem Dreißigjährigen Krieg, da gab es menschenfreie Landschaften. Mit hohen Verlusten mußte man in verheerenden Kriegen immer rechnen. Hoffentlich treibt man es diesmal nicht auf die Spitze und kalkuliert nicht schon wieder so zynisch! Frieden ist jetzt das Gebot der Stunde!
Manchmal frage ich mich, ob das Ganze immer zyklisch kommt. Die Normalität der Grausamkeit, die Verrohrung, das Barbarische. 1. WK, 2. WK mit dem menschenverachtenden NS-Regime und der Militarisierung. Nun Jahrzehnte später, wieder das Hervorkriechen der Grausamkeit. Wobei, wenn man an Washington denkt, dann war die Grausamkeit nie weg, siehe Korea, Vietnam, Lybien, Syrien, Serbien 1999 die NATO, Afghanistan usw. usw. Bitter und beschämend für die angeblich intelligenteste Spezies auf dem Planet