Europa zeigte sich grosszügig: Auf der neunten internationalen Syrien-Konferenz in Brüssel haben die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten diese Woche Finanzhilfen in Höhe von 5,8 Milliarden Euro für den Wiederaufbau Syriens zugesagt.

Noch-Aussenministerin Annalena Baerbock brachte die optimistische Konferenzstimmung auf den Punkt: Dreieinhalb Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes stehe Syrien vor einer «historischen Chance auf eine bessere, friedlichere Zukunft», auch wenn die Sorge vor einem Rückfall in Gewalt und Instabilität noch allgegenwärtig sei.

Der Westen hat in seiner Geschichte wiederholt politische Figuren unterstützt, die sich später als gefährlich erwiesen haben. Das Hofieren von al-Sharaa, der sich in den Machtkämpfen des Nahen Ostens als Terrorist profiliert hat, erinnert jetzt daran.

Zwar erzielte er kürzlich ein Abkommen mit den von den USA unterstützten kurdisch geführten Behörden im Nordosten Syriens, das unter anderem einen Waffenstillstand umfasst. Zudem versucht er, die politische Macht zu dezentralisieren, indem er so etwas wie eine «Föderation Syrien» anstrebt.

Doch das neue Regime unter der Führung von Hayat Tahrir al-Sham (HTS), das im Dezember die Macht übernahm, lässt immer wieder islamistische Ideologie durchscheinen. Ahmed al-Sharaa, der sich bis vor kurzem noch mit seinem nom de guerre Abu Mohammad al-Jolani ansprechen liess, hat bisher nicht bewiesen, dass er die extremistische Ideologie vollständig abgelegt hat.

Eine Verfassung mit islamistischem Fundament

«Wir beobachten eine schleichende Islamisierung Syriens», berichtet Matthew Barnes, Sprecher von Open Doors für den Nahen Osten und Nordafrika, der kürzlich aus Syrien zurückkehrte. Im März unterzeichnete al-Sharaa eine neue Verfassung, die das Land für fünf Jahre unter islamische Herrschaft stellt. Die Scharia wurde dabei als «wichtigste Quelle» der Gesetzgebung verankert – eine symbolträchtige Formulierung, die bereits sichtbare Folgen hat.

Die Änderungen sind nicht nur theoretischer Natur: Polizisten müssen künftig islamische Rechtsprechung studieren, bevor sie ihren Dienst antreten dürfen. In Fitnessstudios trainieren Männer und Frauen getrennt, und in den Schulen gilt eine Verschleierungspflicht für Mädchen.

Die provisorische Verfassung lässt zudem Zweifel an den demokratischen Absichten des einstigen Terrorführers aufkommen. Der Text sieht die Einrichtung eines Volkskomitees vor, das als Übergangsparlament fungieren soll, bis eine dauerhafte Verfassung verabschiedet wird. Al-Sharaa schanzt sich diktatorische Vollmachten zu. Zwei Drittel seiner Mitglieder werden von einem Ausschuss ernannt, der von ihm als Interimspräsident ausgewählt wird, und ein Drittel von al-Sharaa direkt.

Ein Führer mit zwei Gesichtern

Er gibt sich zwar Mühe, als pragmatischer Staatsmann akzeptiert zu werden, doch er umgibt sich mit radikalen Kräften. Ein Beispiel dafür ist Anas Khattab, der jetzt als Geheimdienstchef innerhalb des Regimes eine Schlüsselrolle einnimmt. Bis vor kurzem war er bekannt für seine Hassreden und seine Fähigkeit, Terroristen zu mobilisieren. Ein weiteres Beispiel ist Murhaf Abu Kasra, neuerdings Verteidigungsminister und ebenfalls ein Vertrauter aus al-Sharaas Dschihadistenzeit, der nun Terroristen in die Armee aufnimmt.

Ein schmerzhafter Rückschlag

Die ersten Konsequenzen dieser Politik wurden Anfang März deutlich: In Westsyrien kam es zu Massakern an alawitischen Zivilisten, die von al-Sharaas Truppen verübt wurden. Solche Ereignisse nähren die Befürchtung, dass Syrien unter al-Sharaas Führung weder stabil noch friedlich sein wird – auch wenn es noch so viele Milliarden erhält.