Stellen Sie sich vor, ein vom Staat finanzierter Inlandsgeheimdienst überwacht eine grössere Oppositionspartei, erklärt in Gestalt seines Chefs, man könne nicht allein dafür sorgen, dass die betreffende Partei klein bleibe, und operiert mit Schätzungen per Daumen, wie gross etwa bestimmte Flügel der Partei seien …

Wir sprechen vom deutschen Verfassungsschutz, dessen Präsident Thomas Haldenwang (CDU) laut Kanzler Olaf Scholz (SPD) ein «unabhängiger Beamter» sein soll, sich aber tapfer damit brüstet, eine Regenbogenfahne vor dem Haus und im eigenen Büro zu haben und so Ampel-gefällig gendert, dass er schon mal lange Gespräche mit «Bewerbenden» führt.

Überhaupt kann sich das links-gelbe Regierungsbündnis über den CDU-Mann Haldenwang nicht beschweren. Er kann in Klima-Klebern keine Erpressungsversuche gegenüber dem Staat erkennen, sondern nur löbliche Absichten zum Klimaschutz, der ja schliesslich Verfassungsrang geniesse. Ein Bundesverdienstkreuz sollte demnächst also durchaus drin sein für Strassenblockierer und Kunstschänder.

Noch problematischer ist allerdings, dass Haldenwang den ursprünglich aus guten Gründen nach den Erfahrungen der NS-Zeit sehr eng begrenzten Auftrag des Verfassungsschutzes weit über die eigentlich im Gesetz stehende Bekämpfung aggressiv-kämpferischer Verfassungsfeinde und ausländischer Spione hin zur Verfolgung missliebiger Meinungen ausdehnt. Die Begründung ist abenteuerlich: Überall, wo die Menschenwürde (Art. 1 GG) angetastet werde, müsse man wachsam sein – unabhängig davon, ob die Akteure die freiheitliche Grundordnung bekämpfen und abschaffen wollen oder nicht. Schliesslich habe man 1933 gesehen, dass man auch mit demokratischen Mitteln eine Diktatur errichten könne.

So tauchen in den Verfassungsschutzberichten inzwischen Delikte wie «verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates und seiner Organe» auf, worunter übrigens auch Leute fallen, die die Gegenwart mit DDR-Zeiten vergleichen, was der Autor dieser Zeilen (grosses Pionier-Ehrenwort!) nie wieder tun wird.

Allerdings wären staatliche Organe auch dann delegitimiert, wenn man etwa über den Sinn des Amtes eines Bundespräsidenten sinnieren würde, was zweifellos zulässig und nicht selten berechtigt ist. Aber wir wollen ja nicht im nächsten Verfassungsschutzbericht vorkommen …

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.