Steht die nächste Erdölkrise vor der Tür? Noch ist keine Panik angebracht, aber die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten haben die Kapitalmärkte verunsichert. Erste Gewinnmitnahmen an den Aktienmärkten haben eingesetzt. Vor allem hat die Ausweitung des Kriegsgeschehens im Nahen Osten mit dem massiven Raketenangriff des Iran gegen Israel zu einem Anstieg der Erdölpreise geführt. Seit dem Jahrestief vom 10. September sind die WTI- und Brent-Preise bis zum 2. Oktober um 9,5 Prozent angestiegen, aber sie liegen mit 72 und 75 US-Dollar pro Fass immer noch um 18 Prozent unter dem diesjährigen Höchststand.

Kommt es zu einer weiteren Eskalation, könnte die Erdgas- und Erdölversorgung Europas spürbar gestört werden. Eine allfällige Blockade der Strasse von Hormus würde zu einem bedeutenden Ausfall von Erdöllieferungen führen, denn rund 20 Prozent des global verschifften Erdöls passieren diese Meerenge zwischen dem Iran und Oman beziehungsweise den Emiraten. Ein erneuter starker Preisanstieg für Erdöl und Erdgas wäre dann programmiert.

Kommt es zu einem israelischen Gegenschlag im Iran, dann stehen wohl Ölförder-, Waffenproduktions- oder Atomanlagen im Visier. Auch wenn US-Präsident Joe Biden einen Angriff auf iranische Atomanlagen ablehnt, ist ein solcher nicht auszuschliessen. Aber auch eine Zerstörung von Verlade- oder Förderanlagen könnte den Erdölmarkt erschaudern. Die US-Präsidentschaftswahlen erschweren derzeit die Handlungsfähigkeit der USA, denn der scheidende Präsident Biden wird wohl kaum daran interessiert sein, während seiner restlichen drei Monate Amtszeit noch einen Kriegseinsatz anzuordnen. Eine neue Präsidentin Harris oder ein wiedergewählter Donald Trump werden weitere Monate benötigen, um Entscheide vorzubereiten.

Im Mittleren Osten liegen 56 Prozent der nachgewiesenen Erdölreserven der Welt. 2023 wurde dort gemäss Organisation erdölexportierender Länder (Opec) rund ein Drittel des weltweiten Erdöls gefördert. An den weltweiten Exporten ist der Mittlere Osten mit knapp 40 Prozent beteiligt. Weitere 11 Prozent stammen aus Afrika und 10 Prozent aus Russland. Der Grossteil der grenzüberschreitenden Erdölbezüge stammt somit aus politisch oft problematischen Ländern.

Etwas schwächer dotiert ist der Mittlere Osten in Bezug auf die Raffinerie-Kapazitäten, wo der Anteil nur 10 Prozent erreicht. Sogar nur 8,4 Prozent des weltweiten Erdölkonsums entfällt auf den Mittleren Osten, während Nordamerika 25 Prozent, Europa 13 Prozent und China 16 Prozent beanspruchen. Diese Kluft zwischen Eigenproduktion und Nachfrage führt zu Abhängigkeiten und Risiken von Lieferunterbrüchen, die die Wirtschaft in vielen Ländern bedrohen.

Am stärksten von ausserkontinentalen Erdölbezügen abhängig ist Europa, denn dort werden nur 3,8 Prozent des globalen Erdöls gefördert. Auch China muss viel Erdöl importieren, obwohl 5,8 Prozent der Weltproduktion auf China entfallen. Ebenso wichtig ist der Mittlere Osten in Bezug auf die Gasreserven (40 Prozent der Welt) und die Gasproduktion (18 Prozent). Im Vergleich zur derzeitigen Produktion würden die Reserven im Mittleren Osten noch über hundert Jahre ausreichen, während die Reserven in Europa oder in Nordamerika theoretisch bereits nach siebzehn Jahren erschöpft wären. Für Europa ist der Bezug von Erdgas aus dem Mittleren Osten deshalb von grosser Wichtigkeit, weil sich die EU endgültig von russischen Erdgaslieferungen verabschieden will. Die nachgewiesenen Reserven sind nicht endgültige Werte, denn jedes Jahr führen Explorationen in allen Gegenden der Welt zur Entdeckung neuer Erdöl- und Erdgaslager.

Wie wichtig sind der Iran und der Irak für die globale Erdöl- und Erdgasversorgung? Der Iran ist mit einer Förderung von 4 Millionen Fass pro Tag 2023 der siebtgrösste Erdölproduzent weltweit. Der Irak belegt mit 4,3 Millionen Fass pro Tag sogar Platz fünf. Zusammen fördern diese beiden Länder etwas über 10 Prozent des globalen Erdöls. Sie produzieren etwa so viel Erdöl wie Saudi-Arabien. Auch beim Erdgas verfügt der Iran über eine wichtige Marktstellung mit über 6 Prozent der globalen Förderung. Der Irak ist mit nur 0,3 Prozent der Weltproduktion unbedeutend. Im globalen Erdgasgeschäft dominieren Nordamerika (30 Prozent der Förderung) und Russland (15 Prozent).

Die Kontrolle über die wichtigste Erdölregion der Welt spielte wohl auch eine Rolle, weshalb sich die USA als Schutzmacht von Israel engagieren. Der Iran steht wiederum in engen wirtschaftlichen Beziehungen zu China, das heute der wichtigste Investor im Mittleren Osten ist. Zögen sich die USA aus dem Mittleren Osten zurück, würde China wohl die Chance nutzen, das Machtvakuum vollständige zu füllen. Damit würde China seine Erdölbezüge absichern und die wichtigsten Handelsrouten (Suezkanal, Strasse von Hormus etc.) dominieren. Im Nahen Osten ist aber auch Russland militärisch präsent, als Unterstützerin des syrischen Diktators Baschar Hafiz al-Assad. Die Lage ist explosiv und könnte die Finanzmärkte schwer treffen.