Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.
Martin Walser

 

London

An den Ufern der Themse, im ehemaligen Hafenviertel Londons, von wo aus die Briten einst ihr Weltreich eroberten, fand erstmals eine grosse Konferenz der ARC statt, der Alliance for Responsible Citizenship. Das prominent besetzte Treffen mehrheitlich konservativer Denker und Persönlichkeiten forschte nach einer neuen optimistischen «Erzählung» für den kriselnden Westen. Lanciert wurde das Ganze vom kanadischen Star-Intellektuellen Jordan Peterson, einer Mischung aus Genie und Guru, der im etwas geschmäcklerisch geschnittenen rot-blauen Anzug den Eröffnungsakkord setzte: Der Westen müsse sich vom «narzisstischen Liberalismus» befreien. Unsere Welt stehe vor einer existenziellen Entscheidung zwischen «Himmel» oder «Hölle». 

Wo der Weg ins Paradies genau zu finden sei, darüber diskutierten in der Folge Historiker, Unternehmer, Theologen, Forscher, Publizisten. Mit dabei waren bekannte Namen wie etwa der Historiker Niall Ferguson, die Politwissenschaftlerin Ayaan Hirsi Ali, US-Republikaner wie Kevin McCarthy und Präsidentschaftsbewerber Vivek Ramaswamy. Der britische Politiker Michael Gove trat auf wie auch der theoretische Physiker Steven Koonin. Die ARC scheint sich als eine Art Gegenveranstaltung zum World Economic Forum (WEF) in Davos zu positionieren, und die Premiere dürfte gelungen sein. Ein Erfolg ist allein die Tatsache, dass sich hier vor grossem Publikum eine Gruppe interessanter Köpfe versammelte, um eine etwas andere als die aus den Medien gewohnte Sicht auf die Welt zu werfen. 

Am interessantesten gelang dies vor allem in den Vorträgen, die sich im weitesten Sinn mit der Weltuntergangsreligion des «Klimatismus» beschäftigten. Besonders Furore machte beim Publikum der kalifornische Wissenschaftspublizist und regelmässige Weltwoche-Autor Michael Shellenberger. Anhand nüchterner Grafiken widerlegte er die Behauptung, die Welt steuere klima- und wettermässig auf den Abgrund zu. Im Saal nickte zustimmend Richard S. Lindzen, emeritierter Atmosphärenforscher am Massachusetts Institute of Technology, davor Professor an der Harvard-Universität. Seit Jahren weist er darauf hin, dass es zwar einen Klimawandel, aber keine bedrohliche Klimakatastrophe gebe, weshalb es unsinnig sei, «industriellen Selbstmord» zu begehen.

Eine Tücke solcher Konferenzen besteht darin, dass die Konservativen nicht zur Rudelbildung neigen. Der Individualismus, die Absage an alles Ideologische und allzu Gewollte, Konstruierte zeichnen den Konservativismus aus. Deshalb schrecken einige, die sich dieser Denkrichtung verschrieben haben, vielleicht davor zurück, sich wie die Linken in internationalen Gremien zu verbinden. Es gibt ja auch tatsächlich keine abgeschlossene konservative Weltanschauung. Die Frage, was man überhaupt als konservativ bezeichnen möchte, ist offen. Man teilt womöglich ein eher skeptisches Menschenbild, das zur intellektuellen Bescheidenheit mahnt und davor warnt, der Politik viel Macht zu geben. 

Eher konventionelle Töne waren auf den Podien zur Geopolitik zu hören. Da klang die Londoner ARC fast wie das Davoser WEF. Mehr oder weniger alle Redner, vor allem die Amerikaner, sehen den Westen mit Jordan Peterson in einer Art biblischem Endkampf zwischen «Himmel» und «Hölle», gegen die «neue Achse des Bösen» in Moskau und Peking. Die solchen Thesen zugrundeliegende Annahme, dass Russland mehr oder weniger gleichbedeutend sei mit der Sowjetunion und China nach wie vor identisch mit Maos Kommunistendiktatur, schien in den Diskussionen niemand anzweifeln zu wollen. Der Theologe Os Guinness streute zwar ein geniales Zitat von Rabbi Jonathan Sacks in die Debatte: «Was ist ein Held? Einer, der erobert? Nein. Einer, der einen Feind in einen Freund verwandelt.» Doch leider verhallte die Einsicht ziemlich spurlos im Saal. Die meisten Redner waren zu sehr damit beschäftigt, neue Feinde und Fronten zu beschwören.

Gibt es zum Westen «keine Alternative», wie der eben als Sprecher des US-Repräsentantenhauses abgewählte Abgeordnete Kevin McCarthy in die Runde rief? Unstrittiger ist da wohl eher die von vielen Rednern geäusserte Diagnose, der Westen befinde sich in einer Sinnkrise, habe sich von den christlich-jüdischen Wurzeln seiner Kultur entfernt und damit auch von seinem Erfolgsmodell. Es brauche eine Rückbesinnung. Bei einigen Referenten klang diese Forderung fast wie ein Schlachtruf für kreuzzugsähnliche Operationen gegen die angeblichen Feinde des Westens im Osten. Soll der dekadente, im Wohlstand verweichlichte «Woke»-Westen seine innere Kraft im Stahlbad neuer Kriege wiederfinden? Es wäre ratsam, beim nächsten Mal vielleicht auch Konservative einzuladen, die den klirrenden Parolen widersprechen. 

«Konservativ» heisst ja nicht zwangsläufig «kriegerisch». Nicht alle Konservativen spüren das heilige Feuer der amerikanischen, meist von links übergelaufenen «Neokonservativen», bei denen es zwar einige brillante Geister gibt, deren aussenpolitische Ratschläge bis jetzt aber vor allem Chaos und Unheil gestiftet haben. Die ARC, wenn schon in England, könnte sich auch auf den schottischen Philosophen des Freihandels, Adam Smith, beziehen. Der grosse Liberale, auch ein bedeutender Konservativer, befasste sich intensiv mit der Kunst der Empathie, dem Vermögen zur Einfühlung in alles Menschliche und damit in die unentrinnbare, faszinierende Vielfalt unserer Zivilisationen. Der Konservativismus ist eben kein Dogma, schon gar kein aussenpolitisches, sondern etwas Organisches, als denkerische Tätigkeit stets aufs Praktische ausgerichtet, auf die Wirklichkeit, die sich allen Dogmen entzieht.

Jedenfalls: Der ARC gelingt in London eine vielversprechende Ouvertüre. Wir sind gespannt, ob Kraft und Überzeugung reichen, um hier ein Gegengewicht zu schaffen zu dem, was sonst so erzählt und debattiert wird.