Können wir eigentlich noch sagen, was wir wollen? Reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist? Oder herrscht in Deutschland ein Klima der Meinungsunfreiheit?

Nach der jüngsten Befragung des Demoskopie-Instituts Allensbach für seinen regelmässig erhobenen Freiheitsindex sind nur noch 40 Prozent der Deutschen der Ansicht, dass man hierzulande seine politische Meinung frei äussern könne. 44 Prozent glauben, dass sie mit freien Meinungsäusserungen vorsichtig sein müssten. Es steht also nicht gut um die gefühlte Meinungsfreiheit. Wie kommt das?

Für den Verlust an Meinungsfreiheit machen die, die so argumentieren, den Staat verantwortlich. Er fördere die Cancel-Culture, schaffe Meldestellen. Da gibt es die, die nicht gendern und deswegen tatsächlich abgestraft werden. Es werden allerdings weniger. Da gibt es die, die ihrer Benzinschleuder die Stange halten und deswegen meinen, einer verfolgten Minderheit anzugehören. Und da gibt es die, die Ausländer raushalten möchten und sich deswegen als zu Unrecht verfolgte deutsche Helden fühlen. Es gibt auch die, die einfach nur in ihrem Keller heizen wollen, wie sie wollen. Die gute Nachricht an alle die: All das ist erlaubt!

Trotzdem ist etwas dran: Es gibt sie wirklich, die Cancel-Culture. Allerdings ist es damit ein bisschen so wie mit dem Veganerkult: Seine mediale Resonanz ist grösser als das Phänomen selbst. Dafür, dass Meinung gecancelt wird, ist im Meinungstsunami auf Social Media jedenfalls überhaupt kein Beleg zu finden.

Allerdings stehen Staat und Justiz vor der Frage: Wie weit hören sie zu – und wann schreiten sie ein? Was ist von der Meinungsfreiheit gedeckt, und wann fängt Hetze an? Wann lohnt es sich, wehrhaft gegen Feinde der Demokratie anzutreten, und wann wird man damit selbst zum Feind der Demokratie?

SPD-Innenministerin Nancy Faeser ist zum Beispiel der Ansicht, dass das Magazin Compact Hetze betreibt, und hat es verboten. Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer sagt über sein Team: «Ein wichtiger Unterschied zu anderen Medien ist: Wir wollen einfach das Regime stürzen, und nur wenn man das Ziel vor Augen hat, kann man auch entsprechende Texte schreiben.» Solche Sätze hört sich kein Innenminister gerne tatenlos an. Faeser auch nicht. Allerdings hat sie ihre Rechnung ohne das Gericht gemacht, das jetzt im Eilverfahren ihr Verbot des Magazins aufhob. Das Gericht sah in der Pressefreiheit den grösseren Wert als in der Notwendigkeit, die Gefahr, die von Compact ausgehen mag, zu bannen. Es steht damit eins zu null für die Pressefreiheit in Deutschland. Das ist ein Sieg.

Dennoch ist etwas dran, wenn beispielsweise die Juristin Juli Zeh bei der Talksendung von Markus Lanz beklagt, dass ein Diskursklima herrsche, das Menschen den Eindruck vermittele, mit einer bestimmten Auffassung ausgesondert zu werden. Ihr Eindruck sei, dass man schnell in eine Situation komme, «wo man es nicht nur unerträglich findet, wenn jemand wirklich Grenzen überschreitet, sondern schon dann, wenn Meinung zu stark abweicht».

Ist das aber neu? Nein. Nur hat sich das Umfeld geändert. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander zum Beispiel war in den 1960er Jahren gesellschaftlich zu Lasten der Frauen klar definiert. Das Verhältnis zwischen rechts und links neigte sich zugunsten von rechts, heute ist es umgekehrt. Die Diskussionen darum verblassten aber, weil andere Bedrohungen wirklich schlimmer waren. Der Kalte Krieg drohte dauernd ein heisser zu werden, und die Front lief mitten durch Berlin. Doch auch früher gab es heftigen Streit, dessen sprachliche Erscheinungen nicht weniger aufgeregt wahrgenommen wurden.

Der Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, Henning Lobin, erinnert daran, dass besonders Nazivergleiche die politische Auseinandersetzung in der Bonner Republik gepflastert haben. Etwa die Aussage der damaligen SPD-Grösse Oskar Lafontaine im Jahr 1982, dass man mit den Tugenden, die Helmut Schmidt für seine Politik geltend mache, auch «ein KZ betreiben könne». Lobin erinnert daran, dass Slogans, die heute bei Pro-Palästina-Demos gerufen werden, nicht die extremen Ausmasse dessen erreichen, was in den 1970er Jahren auf der Strasse nach den Mordtaten der Rote-Armee-Fraktion zu Franz-Josef Strauss zu hören war: «Buback, Ponto, Schleyer – der nächste ist ein Bayer.»

Heute gibt es aber einen grossen Unterschied. Es stehen mehr Stühle am Tisch, wie es der Soziologe Aladin El-Mafaalani ausdrückt. Und Social Media verleiht allen Tischgenossen eine Stimme. Die, die auf diesen Stühlen sitzen – sie reden alle lautstark mit: die Migranten, die Schwulen, die Lesben, die Rechten, die Linken, die Alten, die Jungen, die Klimaaktivisten, die Wirtschaftsverbände, die Religionen, die Tierschützer und die Dreibeinigen, die Volleyball spielen wollen. Mit der Wahrnehmung all dieser Gruppen, die am Tisch sitzen, verbindet sich die Suche nach der geeigneten Anrede ihrer Mitglieder, möglichst die Rücksichtnahme auf deren Erfahrungen, das Unterlassen von Klischee-Aussagen.

Ich glaube: Diese Rücksicht verkompliziert unser Verhältnis zueinander. Ich wäre auch etwas gehemmt, wenn die alle an meinem Abendbrottisch sässen. Mir würde vielleicht das Brot im Hals stecken bleiben, ich würde es auf jeden Fall als Einengung sehen. Dabei handelt es sich um das Ergebnis eines Demokratisierungsprozesses, den wir allerdings in seinem Extrem als undemokratisch wahrnehmen. Haben wir trotzdem ein Recht darauf, zu sagen, was wir wollen?

Haben wir. Die Meinungsfreiheit wird durch das Grundgesetz garantiert. Eingeschränkt wird sie nur durch das Strafrecht, durch das beispielsweise Beleidigung, üble Nachrede oder Verleumdung sanktioniert werden können. Unterhalb der Ebene des Strafrechts folgen wir Regeln, die durch gesellschaftliche Werte vorgegeben werden. Die sind biegsam, verändern sich ständig, und sie sind auch Auslegungssache. Deswegen dürfen wir weiterreden, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Und vielleicht ist alles ganz einfach: So wie ich selber nicht möchte, dass mit mir gesprochen wird, rede ich auch nicht mit anderen. Kann funktionieren.