Die Kultserie «Familie Heinz Becker» darf im Internetarchiv des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht mehr ohne sittliche Vorwarnung angesehen werden: «Das folgende fiktionale Programm wird in seiner ursprünglichen Form gezeigt. Es enthält Passagen, deren Sprache und Haltung aus heutiger Sicht diskriminierend wirken können.» Es wird also klargestellt, dass man die Drehbücher aus den 1990er Jahren nicht moralisch «gesäubert» hat, so als wäre das die normale, zu erwartende Praxis.

Szenenwechsel nach Nordamerika: Der PEN-Club in den USA registrierte dieses Jahr bisher mehr als 1500 Verbannungen von rund 900 Büchern aus Bibliotheken im ganzen Land. Essays von Nobelpreisträgerin Toni Morrisson waren ebenso betroffen wie Margaret Atwoods Dystopie «Der Report der Magd». Verschiedene Titel, die Fragen von Sexualidentität behandeln, aber auch Art Spiegelmans Verarbeitung des Holocaust in der Graphic Novel «Maus – Geschichte eines Überlebenden» mussten aus Regalen weichen.

Das sind keine Ausreisser. Im Westen werden jetzt allerorten Kulturgüter moralisch berichtigt. Sogar die Sprache als Ganze soll «gerecht» gestaltet werden, wozu sich eine Minderheit berechtigt fühlt, Schreibung und Aussprache nach ihren Vorstellungen abzuändern. Manuskripte werden in manchen Verlagen «Empfindlichkeitsprüfungen» (sensitivity readings) unterworfen.

Ich fühle mich bei all dem an Wolfgang Leonhards Buch «Die Revolution entlässt ihre Kinder» erinnert: Der Sohn einer deutschen Auswanderin in die UdSSR schildert darin unter anderem seine Ausbildung im kommunistischen Internat. Er berichtet von geschwärzten Passagen in literarischen Werken und von öffentlichen Fehlerbekenntnis-Ritualen sowie penibler Sprach- und Sprechberichtigung; alles im Geist einer totalitären politischen Korrektheit.

Die Verwandtschaft, ja teilweise Gleichartigkeit der heutigen und der damaligen Praktiken kann uns nicht entgehen. Damals wie heute werden folglich gleichartige, wenn auch in Umfang und Tiefe verschieden schwere Schäden angerichtet. Heute sind es immerhin demokratisch gewählte Regierungen, die «Säuberungen» am Kulturbestand vornehmen – also können wir hoffen, durch kritischen Diskurs diese Politik zu überwinden.

Die Kontrolle von Sprache und Ausdrucksweise dient immer der Gedanken- und Verhaltenskontrolle, in der Kindererziehung wie im gesellschaftlichen Leben. Werden Kulturgüter nach den Vorstellungen einiger Zeitgenossen korrigiert, so geschieht das, um ideologisch unerwünschte Worte, Assoziationen und Gedanken aus Intellekt und Diskurs zu entfernen. Dann, so meint man, kann auch nicht mehr nach den für defekt er-klärten Begriffen gehandelt werden, und «die Welt wird ein besserer Ort».

Wer so vorgeht, der zeigt klar, dass er die Toten aller Zeiten ebenso wie die noch unbelehrten Mitmenschen nach seinen Werten moralisch zur Rechenschaft ziehen will. Aus der gefühlten Kenntnis der ewigwahren Moral geht man daran, diese in allen Bereichen umzusetzen – dem Anspruch nach in Vergangenheit und Zukunft. Konfuzius, Buddha, Mohammed, Jesus, aber auch Julius Cäsar, William Shakespeare, Baruch Spinoza und Friedrich Nietzsche – alle sind prinzipiell korrekturbedürftig.

Den Stand dieses Projekts fasst Alain Finkielkraut so zusammen: «Die bildenden Künste, die Literatur, das Ballett, die Oper, das Kino, die Philosophie, die Religion: Sie alle dienen jetzt der Verteidigung der guten Sache.» Und das ohne gefühlige Ausnahmen – auch «Schneewittchen muss weiterschlafen, weil der Kuss nicht einvernehmlich wäre.»

Ein Teil der politischen und intellektuellen Funktionseliten will den jetzigen und den kommenden Menschen auf ihre Sicht der Dinge festlegen. Das andere wird schliesslich intellektuell nicht mehr gebraucht, wenn man die endgültige Wahrheit besitzt. Man will es jetzt loswerden. Das muss übel enden.

Für eine offene Gesellschaft mit Informations- und Meinungsfreiheit, ergebnisoffener Wissenschaft und pluralistischer Debatte hat ein selbstgewisser Zensor vergangener und künftiger Kultur keine Verwendung. Man geht an die Schliessung der offenen Gesellschaft nach Massgabe der eigenen, unfehlbaren Ansichten.

Am Horizont sehen die Kulturzensoren unsere Erlösung: ein einheitliches Welt- und Menschenbild und die Verunmöglichung der Abweichung von dieser Endwahrheit durch Manipulation der kulturellen Überlieferung. Das wäre dann die ideologisch totale Herrschaft einer kleinen aktuellen Subkultur über Vergangenheit und Zukunft. Wollen wir die?

Michael Andrick ist promovierter Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung. Sein letztes Buch «Erfolgsleere» (Herder 2020) analysiert das Leben und Funktionieren in der Industriegesellschaft.

Die 3 Top-Kommentare zu "Moral-Warnungen und Bücher-Bann: Der heutige Woke-Trend erinnert an totalitäre Versionen politischer Korrektheit aus vergangenen Zeiten. Erneut werden Kunstwerke «korrigiert», um ideologisch Unerwünschtes aus dem kulturellen Gedächtnis zu tilgen"
  • Pratze

    Hõrt auf, alles zu korrigieren, wir ertragen die Originalfassung und können einordnen. Bücherverbrennungen hatten wir schon. Auch damals von einer Seite, die genau gewusst hat, was für die Menschheit das Beste ist. Das Ergebnis kennen wir.

  • herby51

    Man kann es nur immer wieder betonen;rot-grün mit einem Schuss gelb gibt eine braune Sauce!

  • bmiller

    Es ist entsetzlich und nein, wir wollen keine Herrschaft "einer kleinen aktuellen Subkultur über Vergangenheit und Zukunft. " Aber ist es wirklich nur eine kleine Subkultur? Denn die stetige Verengung des Meinungskorridors, das Bestrafen auf verschiedene Art und Weise für unbotmässiges Verhalten, ja gar Gedanken, hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt. Ökodiktatur, Gesundheitsdiktatur , Gesinnungskontrolle in DE, " Meldestellen" um "Antifeminismus, Rassismus, Anti LGBTQ anzuzeigen usw.