Wir wollen keine Hexenjagd und schon gar keine
Gesinnungsschnüffelei. Wir sagen auch, jeder muss
die Chance haben, zu unserer Verfassungsordnung,
wenn er will, wieder zurückzufinden.

Helmut Kohl

 

Ich liebe, ich liebe doch alle, alle Menschen.

Erich Mielke

 

Viel Kritik, ja regelrechte Empörung hat die deutsche Innenministerin Nancy Faeser mit ihrem Massnahmenplan gegen tatsächlichen und angeblichen Rechtsextremismus ausgelöst. Bekannte Staatsrechtler sahen sich genötigt, warnend in die Diskussion einzugreifen. Was die SPD-Politikerin da vom Zaun breche, sei «undemokratisches Denken», sagte etwa Volker Boehme-Nessler, Professor für Öffentliches Recht in Oldenburg, dem Portal Nius. Für «grundrechtswidrig» hält der in Augsburg lehrende Rechtsprofessor Josef Franz Lindner den geplanten Vorstoss der Ampelministerin.

 

Angst vor der Demokratie

Für einige Kommentatoren droht sich Deutschland zusehends in eine Art linken Gesinnungsstaat zu verwandeln. Die rechte Opposition wittert ein Ende der Meinungsfreiheit und manch Schlimmeres mehr. Zweifellos sind die vorgestellten Pläne des Innenministeriums beunruhigend. Sie zeugen von einem aus Schweizer Sicht ziemlich exzentrischen Demokratieverständnis. Demokratie ist in den Augen von Faeser und ihren Leuten offenbar kein blosses Entscheidungsverfahren nach dem Mehrheitsprinzip, sondern eine Gesinnung, ein Konsens bestimmter politischer Meinungen, die drinliegen oder eben nicht, um dann staatlich verfolgt zu werden.

Fairerweise muss man anmerken, dass dieser seltsame Demokratiebegriff nicht erst seit gestern in der Bundesrepublik herumgeistert. Schon frühere Regierungen flirteten mit der Idee, die Demokratie an eine Reihe von politischen Glaubenssätzen zu knüpfen, die vom Staat eingefordert werden dürfen, ja sollen. Demokrat wäre demnach einer, der die von den herrschenden Milieus erwünschten Meinungen teilt, heute etwa zur Frage der Zuwanderung, der Europäischen Union oder des Kriegs in der Ukraine. Wer in diesen Fragen eine andere Meinung vertritt als die Regierung, läuft Gefahr, als Nichtdemokrat, neuerdings als Verfassungsfeind abgestempelt, bestraft zu werden.

Der in Basel lehrende Philosoph Karl Jaspers hat solche Vorstellungen auf eine in der Bundesrepublik tief wurzelnde Angst der Deutschen vor dem Volk, die eigentlich eine Angst der Deutschen vor sich selber ist, zurückgeführt. Vermutlich traf er damit einen empfindlichen Punkt der Wahrheit. Zwar ist der Diktator Hitler seinerzeit keineswegs durch eine Volksmehrheit an die Macht gekommen, weit über 60 Prozent der deutschen Wähler stimmten in den letzten freien Wahlen gegen ihn. Es seien die «Schleusenwärter» der Macht gewesen, wie es Jaspers ausdrückte, die der «braunen Flut» den Weg geebnet hätten, ein kleiner Kreis konservativer Politiker, die glaubten, den von ihnen unterschätzten erklärten Demokratiefeind Hitler kontrollieren zu können nach dem Motto «Wir schaffen das».

Sie schafften es eben nicht, und Jaspers plädierte aufgrund dieser Erfahrungen dafür, nicht zuerst das Volk, sondern im Gegenteil die Parteien und die machtausübenden Instanzen im Staat einem verschärften Misstrauen, einer erhöhten Wachsamkeit auszusetzen. Doch seine Mahnungen blieben unerhört, ja wurden zu ihrer Zeit, in den sechziger Jahren, als man zu Recht darauf stolz war, aus den Trümmern des Krieges eine so stabile demokratische Staatsform aufgebaut zu haben, als ketzerische Nestbeschmutzung eines im Schweizer Exil lebenden Gelehrten abgetan. So blieb die Bundesrepublik gegen Jaspers’ Mahnungen auf einem tiefwurzelnden, eben institutionalisierten und damit den Mächtigen und der politischen Klasse dienenden Misstrauen gegenüber dem Volk errichtet mit sehr starken Parteien, sehr hohen Hürden für neue Parteien und einem Wahlrecht, bei dem der Bürger lediglich mit zwei Kreuzen auf seinem Wahlzettel auf die Machtverteilung Einfluss nehmen kann.

 

Widerstand gegen Verfügungen von oben

Das ging so lange gut, als die Mehrheit der Bevölkerung das Gefühl hatte, nach den Geisterbahnfahrten und Exzessen der Geschichte kompetent, stabil und im weitesten Sinn gut regiert zu werden. Es störte zum Beispiel nur wenige, als die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl ohne jede Volksabstimmung entschied, die D-Mark durch den Euro zu ersetzen. Hinterher gaben beteiligte Minister unumwunden zu, dass so etwas «demokratisch» niemals durchzusetzen gewesen wäre. Sie machten es trotzdem. Die deutschen Regierungen von Schröder bis Merkel wären, ohne mit der Wimper zu zucken, bereit gewesen, das deutsche Grundgesetz durch einen EU-Verfassungsvertrag auszuwechseln, ohne Volksabstimmung selbstverständlich auch dies, was nach Auffassung mancher Staatsrechtler auf einen Bruch des Grundgesetzes hinausgelaufen wäre.

Seit einigen Jahren allerdings mottet und verstärkt sich das Unbehagen der Bevölkerung gegen diese Demokratie von oben, gegen die Neigung der Politiker, weitreichende Entscheidungen zu treffen, die sich im Nachhinein als nachteilig für grosse Bevölkerungskreise herauszustellen pflegen. Zu nennen wären die Massenaufnahme sogenannter Flüchtlinge durch die Regierung Merkel im Jahr 2015 und der Ausstieg aus der Kernenergie. Es folgten die sich über Eigentumsrechte und die Wirtschaftsfreiheit hinwegsetzende Klimapolitik und schliesslich die Corona-Massnahmen, die rückwirkend von vielen als völlig unnötiger Angriff auf zentrale Grund- und Volksrechte empfunden wurden. Im gleichen Stil ging es weiter, zuletzt mit der Entscheidung der «Ampel», die Bundesrepublik, diesen antikriegerischen Staat par excellence, in eine sich verschärfende, indirekt militärische Konfrontation mit dem einstigen Wirtschaftspartner Russland hineinzureiten.

Anstatt nun zu diesen wichtigen Weichenstellungen möglichst breite Debatten anzuregen und durchzuführen, haben sich die etablierten Parteien, egal, ob Regierung oder Opposition, die sich ohnehin zum Verwechseln angeglichen hatten, schon unter Merkel hinter ihren Verfügungen verschanzt, als handle es sich um Dogmen, um religiöse Wahrheiten. Kritiker wurden abgekanzelt, entlassen, wenn sie im Staatsdienst waren, schliesslich zu Extremisten oder «Nazis» erklärt. Das unselige, institutionalisierte Misstrauen der Regierenden gegen das Volk brach sich immer ungehemmter Bahn und provozierte natürlich auch Gegenkräfte. Die «Alternative für Deutschland» ist das Ergebnis dieser bereits von Merkel vorgespurten «alternativlosen» Diskussionsverweigerung einer sich immer mehr von der Bevölkerung entfernenden Classe politique. Man denke nur an die Bemerkung von Aussenministerin Baerbock, sie würde ihre Russlandpolitik auch durchziehen, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung dagegen wäre. Die eigene Wahrheit der Politiker steht über der Mehrheit der Bevölkerung, des Souveräns – so weit haben sich die Regierenden in Deutschland inzwischen von der Demokratie entfremdet, entfernt.

 

Faesers Bekehrungsstaat

Innenministerin Nancy Faeser ist nun mit ihren an die DDR erinnernden Spitzelmethoden gleichsam Höhepunkt, aber auch Karikatur dieser in der Bundesrepublik verankerten Neigung zum hochmütig-überheblichen Gesinnungsstaat, der freihändig von oben über die Köpfe der Bürger hinwegregiert. Es war Faeser, die als mutmasslich erste deutsche Politikerin seit dem Zweiten Weltkrieg öffentlich wieder mit einer politischen Armbinde auftrat – um sich an der Fussball-WM in Katar für die LGBTQ-Bewegung zu engagieren. In aller Selbstverständlichkeit lebte Faeser damit weltöffentlich vor, was für sie ein Staat sein soll: keine weltanschaulich neutrale Instanz zur Verwirklichung des Rechts, sondern im Gegenteil eine antiliberale, weltanschaulich-moralische Anstalt, die mit Bekehrungsabsicht auftritt, aber auch, wie sich immer klarer herausstellt, mit Verfolgungsgewalt gegen Andersdenkende und Nicht-bekehrt-sein-Wollende.

Ihr Massnahmenplan zielt in exakt diese Richtung: Es geht darum, unerwünschte Meinungen auszumerzen, die Macht der Regierenden zu betonieren und die Opposition in den Ruch des Landesverrats oder der Staatsfeindschaft zu bringen, unter anderem auch dadurch, dass man sich, wie Faeser es formulierte, um die «Gerichte kümmert», also die rechtsstaatliche Gewaltenteilung verletzt. Der Angriff gegen Andersdenkende und Nichtbekehrte unter Aushebelung der Unschuldsvermutung geht einher mit einer schleichenden Ausweitung des Kampfbegriffs «Rechtsextremismus», der inzwischen fast wahllos angewendet werden kann gegen alles, was nicht nachweislich links ist. «Extremist» ist in dieser Lesart nicht mehr nur ausschliesslich jemand, der zur Erreichung seiner Ziele Gewalt einsetzt. Es reicht die falsche Meinung, auf dass der Staat seine Spitzel und Sanktionen in Aktion setzen kann. Faeser verkörpert den Rückfall in jene Zeit, als in Europa Missionare und Kreuzzügler den Ton angaben. Amerikaner könnten sich an die Zeit unter dem kommunistenfressenden Senator Joseph McCarthy erinnern.

 

Durchbruch zur richtigen Demokratie 

Wird sie Erfolg haben? Hoffentlich nicht. Vielleicht erreicht sie mit ihren Bestrebungen sogar das genaue Gegenteil von dem, was sie sich erhofft: dass nämlich immer mehr Deutsche sich nicht mehr so leicht abkanzeln lassen «von oben», dass sie dem institutionalisierten, im Grunde undemokratischen Misstrauen der Regierenden gegen das Volk mit dem urdemokratischen Misstrauen der Bevölkerung von unten gegenüber dem Staat und seinen Sachwaltern reagieren. Laut einem aktuellen Sorgenbarometer von Infratest Dimap steigt die Zahl jener Deutschen, die ihre Regierung als akute Bedrohung empfinden. Mal sehen.

Mit ihren Plänen entstellt Faeser jedenfalls die Arroganz der Mächtigen, diese Konstruktionsschwäche der Bundesrepublik, zur Kenntlichkeit. Kaum mehr übersehbar. Es ist möglich, vor allem aber wäre es zu wünschen, Nancy Faeser trage mit ihren undemokratischen Massnahmen unfreiwillig dazu bei, dass in Deutschland endlich eine richtige Demokratie, die nicht auf der Angst vor dem Volk beruht, sondern auf dem vernünftigen Misstrauen der Bürger gegenüber dem Staat und seinen mächtigen Parteien, zum Durchbruch kommen könnte.