Dieser Artikel erschien erstmals in der Weltwoche vom 30. September 2022.

Oliver Stone erregt seit dreissig Jahren Aufsehen, indem er sich kontroverser Themen annahm, etablierte Ansichten angriff und mit cinematografischem Furor gefestigte Bilder zerstörte. Jetzt bringt der meisterhafte Dramaturg der Provokation mit einem flammenden Plädoyer für die Kernkraft die Generation Greta auf die Palme und mit ihr die Regierungen, die sich der «grünen» Politik verschrieben haben. In seinem neuen Dokumentarfilm «Nuclear»* wirbt der dreifache Oscar-Preisträger für die Kernenergie als Lösung für die Klimakrise. Nur eine massive Aufstockung von Atomkraftwerken könne den Planeten retten.

«Sicherer als fossile Brennstoffe»

«Herr Stone, spielen Sie die Gefahren bewusst herunter, die seit den 1950er Jahren zu Dutzenden Zwischenfällen in Atomreaktoren und zu den drei Grosskatastrophen in Three Mile Island (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) geführt haben?»

Stone schüttelt den Kopf, ehe die Frage ausformuliert ist. «Atomkraft ist die sicherste Energiequelle der Welt», sagt er, per Zoom aus Los Angeles zugeschaltet. In seinem Film würden genaue Statistiken mit Todesfällen in Bezug auf Energiequellen präsentiert. Kohle, Öl und Gas würden viel mehr Tote fordern als Atomstrom. «Atomkraft ist sicherer als fossile Brennstoffe.»

Deutschland und die Schweiz, die beschlossen haben, aus der Atomkraft auszusteigen, seien auf dem Holzweg. Gerade grüne Politiker, die eine treibende Kraft hinter dem Atomausstieg sind, müssten es besser wissen. Denn Atomenergie sei «nicht nur sicherer, sondern auch sauberer» als fossile Energieträger.

Mit solchen Aussagen erntet Stone geharnischten Protest der Umweltaktivisten. Der Star-Regisseur fühlt sich missverstanden. Auch er wolle den Planeten retten. «Ich bin 76 Jahre alt. Für den Rest meines Lebens möchte ich etwas tun, das den Menschen hilft.»

Doch wie steht es mit dem nuklearen Abfall, den verbrauchten Brennstäben aus den AKW, bürden wir damit der Menschheit und der Natur nicht auf Jahrhunderte enorme Hypotheken auf? «Es ist die sauberste Energie, die wir haben», insistiert Stone: «Atomkraftwerke laufen jahrelang, ohne die Umwelt zu verschmutzen, ohne dass Kohlenmonoxid in die Atmosphäre geblasen wird.»

Kernenergie sei aber nicht der einzige Ausweg. Das habe er nie behauptet.

Erneuerbare Energien seien wichtig, aber sie würden nicht ausreichen, um den Bedarf einer wachsenden Weltbevölkerung zu decken. Menschen in Indien, China, Afrika, Lateinamerika würden immer mehr Energie benötigen, «weil sie das wollen, was wir im Westen haben». Gemäss Schätzungen werde der Strombedarf in den nächsten Jahrzehnten um das Zwei- bis Vierfache ansteigen. «Das ist enorm.»

Angst vor Atom

Umso wichtiger seien moderne Kernkraftwerke, die kleiner, effizienter und sicherer sind. In Amerika gebe es fünfzig Start-up-Unternehmen, die sogenannte kleine modulare Reaktoren bauen, Kernspaltungsreaktoren, die eine höhere Sicherheit der verwendeten Kernmaterialien ermöglichen. «Es gibt zahlreiche vielversprechende neue Techniken. Das ist es, was die Leute nicht verstehen. Sie denken an die 1970er Jahre. Sie denken an diese drei grossen Unfälle», von denen bloss einer – in Tschernobyl – wirklich gefährlich gewesen sei.

Ein wichtiger Grund für die Verteufelung von Kernenergie sei Furcht. «Unbegründete Furcht», fügt Stone hinzu. «Alle haben Angst vor der Kernenergie, weil sie auf alte Zeiten fixiert sind. Sie denken zurück an den Zweiten Weltkrieg. Sie denken an Hiroshima und Nagasaki.»

«Die Uno hat deutlich gemacht, dass nicht die Russen das AKW bedrohen, sondern die Ukrainer.

Viele Leute würden Atomwaffen mit Atomkraft verwechseln. «Die Menschen haben nicht verstanden, dass die Bombe mit angereichertem Plutonium hergestellt wird und dass Atomenergie ohne Anreicherung von Plutonium in einem völlig anderen Verfahren gewonnen wird, das sicher ist.»

Mit dem Begriff «Atom» werde Angst gemacht. Besonders jetzt, angesichts des Krieges in der Ukraine. Doch zeigt nicht gerade dieser Krieg, wie verwundbar Kernkraftwerke sind und welche Gefahr sie für die Menschen bergen können? Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) ist die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Katastrophe nach dem Einmarsch der Russen in der Ukraine gestiegen, wie das Beispiel von Saporischschja zeige, wo das lokale Kernkraftwerk offenbar von russischer Seite unter Beschuss geraten ist.

Stone erachtet diese Befürchtungen als ungerechtfertigt. «Die Anlage ist sehr gut gebaut, gut geschützt mit einem Containersystem. Man könnte sogar ein Düsenflugzeug in die Anlage lenken, und sie würde sich nicht entzünden», so sicher sei das Kraftwerk gebaut.

Natürlich würden die Gefahren von der Presse hochgespielt, die versuche, die Stimmung gegen Russland anzuheizen. «Sie wollen die Russen auf jede erdenkliche Art und Weise in Verlegenheit bringen und betonen daher immer wieder, die damit [mit der Nuklearkraft] verbundenen Gefahren. Es wird sogar behauptet, dass die Russen darauf [auf das Atomkraftwerk] schiessen, aber das tun sie nicht. Wir wissen, dass das ukrainische Militär die Anlage unter Beschuss nimmt. Die Vereinten Nationen waren vor Ort und haben deutlich gemacht, dass nicht die Russen die Anlage bedrohen, sondern die Ukrainer.»

Zweifel an Ferndiagnosen

Sosehr man Atomkraft nicht mit Atomwaffen vermischen sollte, so sehr hat Putin doch jüngst dazu beigetragen, dass die Angst vor dem Nuklearen steigt, indem er unverhohlen mit einem Atomwaffeneinsatz drohte. Kann sich Stone vorstellen, dass Putin einen solchen Schritt tun würde?

«Putin wird nicht . . .», Stone hält inne und formuliert neu. Man solle «keine voreiligen Schlüsse ziehen», warnt er. «Er sagte, dass er Atomwaffen einsetzen würde, um Russland zu schützen. Er wird Atomwaffen nur einsetzen, wenn wir Russland bedrohen. Das ist es, was er gesagt hat, und das ist erlaubt.»

Stone zählt zu jenen wenigen Menschen aus dem Westen, die Putin näher kennengelernt haben. Er hat 2015 bis 2017 einen Dokumentarfilm mit dem russischen Präsidenten gedreht, «The Putin Interviews», eine vierstündige TV-Serie. Der Slogan der Doku lautet «Kenne deinen Feind». Seit Monaten wird im Westen immer wieder gemutmasst, ob Putin verrückt sei.

Stone hegt starke Zweifel an diesen Ferndiagnosen. «Als ich ihn das letzte Mal 2018 oder 2019 gesehen habe, war er ein sehr gesunder Mann, sehr ausgeglichen, sehr ruhig.» Seither habe er keinen Kontakt mehr mit Putin gehabt. Aber er glaube nicht, dass er sich verändert habe. «Er ist kein Mann, der die Beherrschung verliert, der einen Ego-Anfall hat. «Ich denke, wenn man einen Krieg führt, sagt man die schlimmsten Dinge über den Feind. Aber man muss den eigenen, gesunden Menschenverstand benutzen.» Laut Stones Einschätzung ist Putin «ein sehr ausgeglichener Mann, ein sehr guter Schachspieler».

Stone empfiehlt, seinen Dok-Film wieder anzuschauen. «Darin erklärt Putin die Situation in der Ukraine.» Die Leute würden heute stets ausklammern, was damals geschehen sei. «Die Vereinigten Staaten haben 2014 einen Staatsstreich in der Ukraine durchgeführt und eine antirussische, prowestliche Regierung eingesetzt.»

Er hege grosse Sorgen wegen der Weltlage. «Ich bin besorgt, weil die Vereinigten Staaten immer weiter Druck machen und provozieren.» Das berge grosse Gefahren. «Sie [die Amerikaner] wollen, dass er [Putin] eine Atomwaffe einsetzt, denn dann haben sie einen guten Grund, ihn in vollem Umfang zu bekämpfen.» Natürlich sei sich Putin des westlichen Spiels bewusst. «Glauben Sie mir, er weiss das alles, aber ich würde nicht mit Putin herumspielen, denn er hat gefährliche Waffen», in einigen Fällen sei ihre Wirkung nicht bekannt.

Antirussische USA

Es sei eine «neue Art von Neokonservativen», die das Kriegszepter in Washington schwingen würden, «und auch die linken Demokraten sind auf den Zug aufgesprungen». Die Neokonservativen seien sehr gefährlich. «Sie haben uns den Krieg im Irak eingebrockt. Vergessen Sie das nicht. Den Krieg in Afghanistan. Diese Leute übernehmen nie die Verantwortung. Sie entschuldigen sich nie für ihre Fehler. Sie machen einfach weiter.»

Das gesamte politische System der Vereinigten Staaten, beide Seiten (Demokraten und Republikaner) seien antirussisch. «Das ist die Politik, die bis ins Jahr 1917 zurückreicht. Roosevelt und Kennedy waren die Einzigen, die eine Art Bresche zu schlagen schienen. Aber diese Art von Staatsmännern haben wir in Amerika nicht mehr.»

 

Oliver Stones Film «Nuclear» wird am 18. Zürcher Filmfestival gezeigt.