Die Russen beissen sich im Donbass fest. Zäh, grimmig, mit gewaltigen Reserven kämpfen sie sich voran. Die Voraussagen und Hoffnungen, die Robin Hoods aus der Ukraine würden die skrupellosen Sheriffs aus Moskau heldenhaft davonjagen, scheinen sich nicht zu bestätigen.
Trotz enormer Waffenlieferungen und logistischer Unterstützung ist Putins Armee vorderhand nicht zu stoppen. Die massiven Sanktionen des Westens machen Putin reicher und Europa ärmer.
In Dresden spreche ich mit dem früheren DDR-Bürgerrechtler und ehemaligen CDU-Politiker Arnold Vaatz. Er lebte jahrzehntelang unter russischer Herrschaft. Er kennt die Russen, er hat Putin studiert. Er hat als Kritiker von Kanzlerin Merkel («Sie hat einen politischen Trümmerhaufen hinterlassen») oft davor gewarnt, die Russen zu unterschätzen. Putin, davon ist Vaatz überzeugt, wolle die Sowjetunion in ihren alten Grenzen wiederherstellen. Die Ukraine sei nur der Anfang.
Vaatz schüttelt wiederholt den Kopf. Von Appeasement-Politik hält er nichts. Den schweizerischen Standpunkt der Neutralität, den ich vertrete, erachtet er als legitim aus Sicht eines Kleinstaats, aber für völlig unangemessen in Bezug auf die Gefahr, die Putin darstelle. Der Kreml-Chef, erklärt er, beurteile den Westen als dekadent. Er respektiere nur die Amerikaner und die Briten. Nichts werde ihn daran hindern, nach der Ukraine in Polen und ins Baltikum einzufallen.
Die Ukraine sei militärisch eine Betonmauer. Dahinter komme die polnische Holzwand, dann Watte. Damit meint er Deutschland. Sobald Putin an der deutschen Grenze stehe, werde ihm die deutsche Verteidigungsministerin ein goldenes Schwert auf einem roten Kissen überreichen als Zeichen der Kapitulation. Auch dies sei ein Erbe der Merkel-Zeit. Die Kanzlerin habe nicht nur die Energieversorgung und die Landesgrenzen ruiniert, sondern auch die Bundeswehr.
Scharfäugig beobachte Putin, wie der Westen verfaule, seine eigenen Ideale mit Füssen trete, nationale Interessen vernachlässige, das Militär abbaue, stattdessen weltfremden Gender-Ideologien und einem grünen Sozialismus huldige. Es sei kein Zufall, dass Putin genau jetzt zugeschlagen habe. Die Russen seien überzeugt, so Vaatz, dass sich ihnen endlich die Chance biete, das nach dem Kalten Krieg verlorene Territorium gegen einen «windelweichen Westen» zurückzuholen.
Auf meinen Einwand, der Westen werde dank Putin immerhin aufgeweckt, gestattet sich Vaatz ein ironisches Lächeln. «Glauben Sie denn, dass wir mit der heutigen Jugend einen Krieg gegen die Russen gewinnen können?» Ich solle mich doch umschauen in Deutschland. «Die schwenken Regenbogen-Fahnen und studieren irgendetwas, das meiste unbrauchbar im Arbeitsmarkt.» Er habe wenig Hoffnung, dass die Deutschen aus ihrem rot-grünen Woke-Delirium aufwachten.
Zwar beurteile ich die Hintergründe des Kriegs anders. Auch glaube ich nicht, dass Putin derzeit die Nato angreifen wird oder kann. Aber wollen, dürfen wir es darauf ankommen lassen?
Vaatz trifft einen wichtigen Punkt: Europa ist militärisch schwach. Die Schwäche ist für landhungrige Aggressoren eine Einladung. Im Worst Case stehen die Russen bald in Polen, an der Grenze zu Deutschland, einem Nachbarland der Schweiz. Kluge Politik sorgt für den Ernstfall vor.
Und auch da ist Vaatz beizupflichten. Der Westen hat Russland unterschätzt, Putin falsch oder gar nicht verstanden. Putin ist der Führer einer Grossmacht. Er leidet unter dem Verlust einstiger Grösse. Die Amerikaner haben die Schwäche Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf eine für viele Russen demütigende Weise ausgenützt. Realistisch ist die Annahme, Putin nütze seinerseits die westlichen Schwächen aus, sobald er das Gefühl habe, er sei stark genug.
Vertrauen und Verständnis sind gut, eine starke Verteidigungsarmee ist besser. Ich plädiere immer dafür, die russische Sicht ernst zu nehmen, zu verstehen, Demütigungen zu vermeiden, russische Interessen zu berücksichtigen.
Am Ende aber geht es um Macht und Abschreckung, um ein wirksames Gegengewicht. Nichts ist gefährlicher, als wenn ein potenzieller Aggressor glaubt, die Gegenseite sei schwach, dekadent. Ungleichgewichte produzieren Kriege.
Die Schweiz kann im Ringen der Grossmächte nichts bewirken. Wir sind nicht in der Lage, Putin durch Sanktionen aufzuhalten. Indem wir uns zur Partei im Wirtschaftskrieg machen, schwächen wir vor allem die Schweiz.
Sollten die von der FDP und der Mitte geforderten Waffenlieferungen an die Ukraine zustande kommen, würde die Schweiz zu einer potenziellen Zielscheibe russischer Raketen. Neutralitätsmüde Bundesräte, Politiker und Journalisten gefährden akut die Sicherheit der Schweiz.
Wir müssen zurück zur immerwährenden, bewaffneten und umfassenden Neutralität. Nur so kann die Schweiz einen sinnvollen Beitrag zum Weltfrieden leisten, abgesehen davon, dass sie seit Jahrhunderten keinen Krieg mehr angefangen hat. Mindestens so wichtig ist eine glaubwürdige Landesverteidigung. Einst hatte die Schweiz Hunderttausende unter Waffen, mobilisierbar innert 48 Stunden. Das ist die Sprache, die die Putins verstehen.
Im übrigen muss heutzutage jeder, der seine Hirnzellen auch nur noch einigermassen zusammen hat vom Schiff aus erkennen, wie dekadent und moralisch verfault unser Westen mittlerweile daherkommt. Nun wird wieder nach Militär als Lösung geschrien, anstatt den Finger konsequent auf den wirklich wunden Punkt zu legen, der heisst: tabuloses moralisches und strafrechtliches Ausmisten v.a. bei unseren Eliten in Politik, Medien und unseren Hochschulen, d.h. weg mit Bologna-Reform und Gender.
Putin/Russland wird einen Teufel tun und die NATO angreifen. Was derzeit in der Ukraine passiert, ist ein Konflikt mit Ansage (die keiner hören wollte). Ein Konflikt, der eskaliert ist, gerade WEIL der Westen sich umfassend beteiligt. Russland und China müssen dem entwerteten Westen gegenüber gar nicht aggressiv auftreten, das erledigen wir selber: Wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich. Sie können sich einfach an den Fluss setzen und darauf warten, dass wir vorbeitreiben.
Was Herr Vatz da erzählt ist Unsinn. Russland hat nicht die militärischen Resourcen, die Nato konventionell anzugreifen. Leider reiht er sich mit seinen Ansichten bei den Scharfmachern ein.