Eine Unwahrheit wird nicht wahrer, indem man sie dauernd wiederholt. Der frühere legendäre Chef der Washington Post, Ben Bradlee, sagte: «Glauben Sie nie, was Ihnen Ihre Regierung erzählt.» Journalismus ist die Freiheit, alles zu hinterfragen, nichts zu glauben.

Also: Hinterfragen wir, was seit einem Jahr in den stehenden Wortschatz der Berichterstattung über die Ukraine eingegangen ist und damit die Wahrnehmung, die Beurteilung und die daraus abgeleitete Politik im Westen bestimmt. Es handelt sich um eine Wahrheit, die niemand mehr bei uns bezweifelt, die alle wiederholen, mehr noch: die alle wie ein sprachliches Parteiabzeichen vor sich hertragen, um anzuzeigen, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen.

Diese Wahrheit, präziser: diese Behauptung hat inzwischen den Status eines fast heiligen Dogmas erlangt, weil sie das Fundament einer ganzen Weltanschauung und Welteinteilung bildet, aus dem unser, der westliche Teil des Planeten seine moralische Selbstrechtfertigung ableitet, nämlich das Gute zu verkörpern und nichts als das Gute, während alle, die sich diesem Anspruch entgegenstellen, logisch zwingend die Bösen sein müssen. Ähnlich dürfte es sich seinerzeit angefühlt haben, als die nachgeborenen Söhne europäischer Adeliger das Handicap ihrer Abstammung, das sie von der Erbfolge ihrer elterlichen Güter ausschloss, dadurch zu überwinden suchten, dass sie sich mit anderen Adeligen und einem Kreuz auf der Brust aufmachten, um im Osten die «Ungläubigen» abzuschlachten, die heiligen Stätten der Bibel zu erobern, getragen und beflügelt vom Gefühl, sie würden den Willen Gottes auf Erden vollstrecken.

Dieser gefährliche Rausch, eine Art moralische Selbsthypnose, scheint wieder mal vom Westen Besitz zu ergreifen, diesmal nicht gegen die als Heimsuchung Gottes interpretierten «Sarazenen», sondern gegen einen anderen angeblichen Auswurf der Hölle, nämlich die Russen und ihren teuflischen Führer Wladimir Putin, diesen in unseren Medien längst zum Monster entmenschten Unhold, den es zu bestrafen, besser: ein für alle Mal unschädlich zu machen gilt.

Anders als in früheren Zeiten sind es nun nicht die Päpste und Pfaffen, die den Kreuzrittern die Schwerter salben. Anstatt auf die Bibel berufen sie sich auf eine andere heilige Schrift, das sogenannte Völkerrecht, das zwar nicht von den Völkern, aber doch wenigstens von den Regierungen geschaffen und von diesen bei Bedarf so zurechtgebogen wird, dass es sich, wie einst das Wort Gottes, jeweils exakt mit den Machtinteressen der Machthabenden deckt.

Diese Wahrheit, die alle bei uns auch nach einem Jahr, als seien sie ihrer Sache doch nicht so sicher, wie es scheint, fast zwanghaft, wie ein Glaubensbekenntnis nachbeten, lautet: Vor einem Jahr habe Russland einen «völkerrechtswidrigen Angriffskrieg» gegen den souveränen Staat Ukraine gestartet und sich damit ins Unrecht gesetzt. Der Westen sei somit automatisch befugt, alles zu unternehmen, um den Rechtsbrecher zu stoppen, die kriminellen Angreifer zur Strecke zu bringen.

Die Frage, die niemand bei uns stellt, zu stellen wagt, weil damit bereits im Ansatz ewige Verdammnis, der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Zivilisierten, der Anständigen und moralisch Empfindsamen droht, lautet: Stimmt das eigentlich? Ist es wirklich so, dass Russland vor einem Jahr das Völkerrecht so krass und eindeutig zertrümmerte, wie das heute geschrieben und wiederholt wird? Hat es zu dieser Frage jemals eine solide wissenschaftliche oder gerichtliche Untersuchung gegeben, Beweiserhebung, Anklage und Verteidigung? Oder handelt es sich um eine sich selbst genügende, sich selbst rechtfertigende Vorverurteilung, ein Urteil jener Gerichtshöfe der Moral, die keinerlei Prozessordnung kennen?

Steinigt mich, aber allein die Tatsache, dass es verboten ist, diese Frage zu stellen, geschweige denn anders zu beantworten als befohlen, ist Grund für Misstrauen. Nur schon die Art und Weise, wie wir über dieses Thema diskutieren beziehungsweise eingeschüchtert jede Diskussion darüber vermeiden, ist ein untrügliches Zeichen, dass etwas faul sein muss. Wenn Journalismus eine Aufgabe hat, dann ist es das schonungslose Bezweifeln von allem, was für wahr und «alternativlos» ausgegeben wird.

Die russische Regierung jedenfalls stützt sich bei ihrer «militärischen Spezialoperation» auf Artikel 51 der Uno-Charta, also auf Völkerrecht, genauso wie sich damals die Nato und der Deutsche Bundestag auf diesen Paragrafen beriefen, als man dem eben unabhängig gewordenen, sich von Serbien einseitig losgesagt habenden Kosovo militärisch zu Hilfe eilte, um einen, wie es hiess, drohenden Genozid der Serben an den Kosovaren zu verhindern.

Ähnlich argumentierten im letzten Jahr Russlands Präsident Putin und Aussenminister Lawrow. Sie hätten mit ihrem Eingreifen einem mörderischen, genozidalen Bürgerkrieg der ukrainischen Regierung gegen die Zivilbevölkerung in den Donbass-Gebieten Einhalt geboten. Auch hier war der Militärintervention eine, analog zum Kosovo gegenüber Belgrad, einseitige Loslösung der Donbass-Republiken Donezk und Lugansk von Kiew im Februar 2022 vorausgegangen.

Niemand bestreitet, dass es vor der Eskalation vor einem Jahr einen Bürgerkrieg auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine gegeben hatte. Ebenso unbestritten ist, dass diesem Bürgerkrieg seit 2014 rund 14.000 vor allem russischsprachige Zivilisten zum Opfer gefallen sind. Berichte der europäischen Sicherheitsagentur OSZE bestätigen überdies verschärftes Artilleriefeuer der ukrainischen Regierungstruppen auf den Donbass im Februar 2022, vor Putins Einmarsch.

Ich bin nicht Völkerrechtler. Ich kann diese Sachverhalte nicht entscheiden. Aber ich bin überzeugt, dass die Art und Weise, wie die Frage der Kriegsschuld bei uns tabuisiert wird, indem man ihre Beantwortung immer schon als unhinterfragbar voraussetzt, kein Massstab sein kann, keine Grundlage der Erkenntnis. Journalisten haben die Freiheit, nichts zu glauben, was ihre Regierungen behaupten. Verzichten sie darauf, diese Freiheit in Anspruch zu nehmen, gerät unsere Demokratie, unsere freiheitliche Ordnung in Gefahr. R. K.