Kasan

Der zweitägige Brics-Gipfel in der russischen Grossstadt Kasan ist als Erfolg für den russischen Präsidenten Putin zu Ende gegangen. Der Staatschef wollte der Welt wohl auch beweisen, dass er keineswegs so isoliert ist, wie seine Gegner wünschen. An der finalen Medienkonferenz im Kongresszentrum beim Flughafen zog er am Donnerstag ein positives Fazit. Die Brics, sagte Putin, möchten einen konstruktiven Beitrag leisten zur Lösung globaler Probleme, dabei aber niemandem ihre eigenen Standpunkte aufzwingen, eine Art Selbsthilfegruppe für eine bessere Welt. 

Die neue Weltordnung, die dem Kremlchef und den Brics-Mitgliedern vorschwebe, sei das Streben nach einem «multipolaren System auf der Grundlage souveräner Nationalstaaten und der Uno-Charta». Putin wirkte sachlich und businesslike. Dann und wann schimmerten Frustrationen darüber durch, dass er vom Westen «getäuscht» worden sei. Den Nato-Staaten warf er vor, den Krieg in der Ukraine zu eskalieren. Er betonte seine Bereitschaft, mit den USA und ihren Verbündeten «gute Beziehungen» wiederherzustellen: «Ich weise niemanden zurück.»

Obschon er zum Schluss nur eine kurze Orientierung in Aussicht gestellt hatte, nahm sich Putin rund eine Stunde Zeit, auch auf kritische Fragen zu reagieren. Es waren Hunderte von Journalisten anwesend, darunter Reporter deutscher Fernsehstationen und aus den USA. Ja, man versuche, Russland zu isolieren, sagte Putin, doch dies «bestärkt uns nur, stachelt uns an». Russland habe Probleme, gab er zu, doch die Wirtschaft zeige, «wir machen es nicht so schlecht». Entschieden dementierte der Präsident, es habe jemals Einmischung in die US-Wahlen gegeben: «Alles Unsinn.» 

Besonders interessant war Putins Auseinandersetzung mit einem britischen Kollegen der BBC. Auf eine ruhige, aber zusehends emotional engagierte, dabei stets frei sprechende Art erklärte er den Ukraine-Krieg aus seiner Sicht. Es gehe um die «Souveränität und Unabhängigkeit» Russlands. Verliere Russland seine Souveränität und Unabhängigkeit, höre es auf zu existieren. Das werde er nicht zulassen. Der Westen habe jahrelang den Krieg Kiews gegen die eigene Zivilbevölkerung im Osten des Landes ignoriert, die eigenen Militärbasen bis an die Grenzen Russlands vorgeschoben. 

«Ist es fair», fragte Putin, «wenn man einen Staatsstreich gegen die gewählte Regierung in Kiew inszeniert?» Oder: «Ist es fair, die Nato immer weiter nach Osten auszudehnen?» «Aber keine Sorge», fügte er hinzu, «wir werden unsere Ziele erreichen.» Dem Westen bescheinigte der Staatschef eine «kolonialistische Attitüde», wenn er versuche, die fossilen Energieträger weltweit zu verbieten. Das würden sich die afrikanischen Länder gar nicht leisten können. Ausserdem habe sich Europa in eine gefährliche Abhängigkeit von den USA begeben, indem es Rohstoffe aus Russland boykottiere. 

Eine Kollegin fragte Putin, ob Russland sich künftig in der Rolle eines Angreifers gegen Israel sehe. Damit spielte sie an auf die Aufnahme des Iran in die Brics-Gruppe und die entsprechend israelkritischen Bekundungen in der Schlussakte der Konferenz. Putin erwiderte, er kenne kein menschliches Lebewesen, «das beim Blick in die Nachrichten nicht weinen würde». Für einen Frieden im Nahen Osten müsse man die Ursachen des Kriegs verstehen, und zwar das Fehlen «einer staatlichen Unabhängigkeit der Palästinenser». Zu viel wolle er aber nicht sagen, es könne missverstanden werden. 

Putin wirkte selbstbewusst, zwischendurch humorvoll, nachdenklich und überlegt. Mit Blick auf die Ukraine sei er bereit, «alle Friedensoptionen anzuschauen, auf der Grundlage der Realitäten». Unsere Medien wischen den Gipfel als Nichtereignis oder blosse Mobilmachung autokratischer Staaten gegen den Westen weg. Auch habe es kaum nennenswerte Beschlüsse gegeben. Solche Einschätzungen verkennen, dass die wichtigste Botschaft der Brics darin besteht, dass es sie gibt. Dem Westen muss es zu denken geben, wenn so viele Länder nach Washington-freien Alternativen dürsten.

Hier zeigen sich wohl auch die Grenzen des antirussischen Propagandakriegs. Die Amerikaner und ihre europäischen Partner behaupten, Russland und China seien finstere Despotien, während sie selber, «der Westen», Frieden, Wohlstand und Rechtsstaat verkörperten. Diese Schalmeien scheinen in weiten Teilen der Welt nicht mehr zu verfangen. Offensichtlich besteht international ein erhebliches Bedürfnis, freizukommen von Washington, andere Formen der Zusammenarbeit zu finden als die von den Amerikanern angeführten, gesteuerten, dominierten.

Auch die im Westen schrill gepflegten Feindbilder gegen Russland und China haben auf Milliarden Menschen an Wirkung eingebüsst, so sie denn jemals eine hatten. Solche Vorgänge könnten unsere Verkünder der Zivilisation, die Gott und die Geschichte auf ihrer Seite wähnen, zu einem selbstkritischeren Blick in den Spiegel motivieren. Doch eher ist das Gegenteil der Fall. Immer tiefer scheint man sich in Vorurteile und regelrechten Hass zu verrennen. Hiesige Medien, Regierende, Ampeln, Figuren des Mainstreams trommeln zur Konfrontation, ohne Rücksicht auf die Folgen. 

Was wir erleben, ist ein Ausbruch der sich im Moralismus genügenden «Gesinnungsethik» auf Kosten einer die Folgen ihres Tuns berechnenden «Verantwortungsethik». Möglicherweise hat die vulkanisch-selbstgerechte Heftigkeit damit zu tun, dass ihre Urheber erkennen, wie sich die Wirklichkeit den kriegerischen Predigten, ruckzuck, strackstrack, entzieht. Putin wirkte im Quervergleich mit einigen der besonders echauffierten Meinungsbildnern aus dem Westen fast unheimlich cool, obwohl es Befürchtungen gibt, auch die Russen würden dem Ressentiment erliegen. 

Eine Weimarisierung Russlands, die Explosion von Gefühlen des Sich-ungerecht-behandelt-Fühlens ist eine reale Gefahr. Eine Politik der Ausgrenzung, Diffamierung und schleichenden Ausweitung des Krieges, in dem längst Nato-Soldaten und Nato-Waffen engagiert sind, wird russische Haltungen befördern, die uns nicht gefallen werden. Der Westen hat es ein Stück weit in der Hand, wie sich Putins Reich entwickelt. Der Brics-Gipfel nährt die Hoffnung, dass die Gurgeln des Kalten Kriegs, die gibt es auch in Russland, nicht das letzte Wort haben werden, sondern die Freunde friedlicher Koexistenz.