Kiew/Budapest

Eben bin ich zurück von einer diplomatischen Reise mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nach Kiew zum Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj. Es war Orbáns erste Amtshandlung als Präsident des Europäischen Rats. Der Ukraine-Krieg ist für ihn die wichtigste Priorität. Er sagte mir, er wolle seine Präsidentschaft einsetzen, um das tägliche Sterben im Osten zu beenden. Zuerst gehe es darum, einen Waffenstillstand hinzukriegen. Dann solle man über Bedingungen für einen stabilen Frieden reden. Ich durfte Orbán begleiten in seinem Militärjet und dann auf dem Landweg in einem Militärkonvoi von der ungarischen Grenze bis nach Kiew und zurück nach Budapest als einziger Journalist während insgesamt fast dreier Tage.

Rund 900 Kilometer ging es durch offenes Land, Westukraine, Kornkammer Europas, riesige Felder, ärmliche Häuser, menschenleere Weiten, die der Krieg nicht erreicht. Armeeposten sahen wir keine. An den Autobahnraststätten waren die Regale voll mit allerlei Produkten, die sanitären Anlagen, Geberit, in bester Verfassung. Frühmorgens trafen wir in Kiew ein, vorbei an bröckelnden Häuserblocks aus Sowjetzeiten. Die ukrainische Hauptstadt, uraltes Handelszentrum, Wiege der russisch-orthodoxen Kultur, funkelt nicht wie Moskau, doch das Leben scheint gut, reger Verkehr, elegante Menschen, viele Junge, auffallend schöne Frauen. Man sitzt in Cafés oder flaniert durch die Gassen. Von Soldaten keine Spur. Auf eine fast aufreizende, irritierende Weise ist der Krieg abwesend in dieser stolzen, traditionsreichen Stadt.

Man muss aufpassen, was man als Zuge-reis-ter aus dem Ausland schreibt. Eindrücke können täuschen. Wer weiss schon, was die Menschen denken. Mich überraschte die provozierende Normalität an diesem Ursprungsort europäischer Kultur, wo West und Ost seit Jahrhunderten zusammenfliessen. Am 1. Dezember 1991 stimmten die Ukrainer mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Das mutige Votum versetzte dem Kommunistenreich den Todesstoss. Seither ist das Land nicht wirklich zur Ruhe gekommen, Regierungswechsel, Korruption, Grossmächte fummelten hinein. Im -Westen lockte die Nato. Im Osten grollten die -Russen. Vor zehn Jahren explodierte der Vulkan. Staatsstreich. Vor über zwei Jahren marschierten -Putins Soldaten ein. Wieder einmal führen sie auf diesem leidgeprüften Blutgelände Krieg.

Was ich nicht verstehe: Seinen Leuten und der Welt erzählt Präsident Selenskyj seit der Invasion, die Russen hätten es auf die Eroberung seiner Heimat abgesehen, mehr noch: auf die Auslöschung einer ganzen Nation. Sein oder Nichtsein. Nicht aber nur die Ukraine sei bedroht, nein, der ganze Westen stehe auf dem Spiel. Das Raubtier aus Moskau wolle sein Revier, sein Imperium erweitern. Auf Kosten der freien Welt. Gesetzt, der ukrainische Präsident meine es wirklich so: Warum stellt er sich nicht vor seine Leute und fordert wie einst Churchill, einsam nach dem Nazi-Sieg in Frankreich: «Blut, Schweiss und Tränen», Mobilmachung total? Kiew wirkt an diesem sommerlichen Vormittag wie eine kolossale Theaterbühne, eine schöne Kulisse. Soll sie den Bewohnern die Illusion bescheren, das Leben gehe weiter, als sei nichts geschehen?

Eigentlich müsste Selenskyj wie Churchill Blut, Schweiss und Tränen fordern. Warum tut er es nicht? Fehlt ihm die politische Unterstützung? Liefen ihm noch mehr Leute davon? Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht freiwillig hin. Schon jetzt hat der Präsident Mühe, die grossen Verluste an Soldaten auszugleichen. Millionen Ukrainer leben im Ausland. Ans Zurückgehen denken die wenigsten. Der Präsident steht unter tonnenschwerem Druck. Vielleicht glaubt er doch nicht so felsenfest an einen militärischen Sieg, wie er uns glauben machen will und womöglich auch sich selbst. Als wir hochfuhren zu Selenskyjs Palast, gelobte Ursula von der Leyen, Chefin der EU-Kommission in Brüssel, zusammen mit ihrer neuen Aussenbeauftragten Kaja Kallas, noch mehr Härte gegen Russland. Das heisst: Noch mehr junge Ukrainer sollen sterben.

Wer findet den Ausweg aus dem Gemetzel? Vor lauter Putin-Dämonologie haben sich die EU-Regierungen allesamt in die Isolation geredet. Diplomatie war gestern. Die Waffen sollen sprechen gegen das Weltübel aus dem Osten. Mit einer Ausnahme: Viktor Orbán steckte mächtig Prügel ein, weil er dem Präsidenten Russlands nach wie vor die Hand schüttelt. Der selbstbewusste Premier der Ungarn hat die Witterung. Er spürt, dass in Europa der Wind dreht. Etwas bewegt sich. Immer mehr Leute sind des Tötens überdrüssig. Sie wollen den Krieg beenden. Ist Orbán der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit? Gut möglich. Auf jeden Fall scheint er im Moment der Einzige, der das kann, was es für den Frieden braucht: mit allen Kriegsparteien auf Augenhöhe reden.

Unsere Medien lieben Orbán nicht. Für sie ist sein geschickt an der scharfäugigen Weltpresse vorbei eingefädelter Überraschungscoup in Kiew ein Flop. Man kann es auch anders sehen. Orbán wuchtete das Thema Waffenstillstand an die Spitze der Agenda. Jetzt müssen alle, die vom Frieden reden, auch zeigen, ob sie es ernst meinen. Das Angebot aus Ungarn lehnte Selenskyj zwar ab. Doch plötzlich sagt der Präsident, der Verhandlungen mit Putin einst verbieten liess, bei der nächsten Friedenskonferenz müsse die Gegenseite dabei sein. Fällt Orbáns Friedensinitiative bereits auf fruchtbaren Boden? Kommt eine europäische Lösung des Konflikts vor den US-Wahlen zustande? Die -Signale aus Kiew -lassen hoffen. Viktor Orbán ist ein Glücksfall für Europa. R. K.