Immerhin ein Punkt scheint geklärt: Sie verspeist keine Russen zum Frühstück. Als im Frühjahr diese Behauptung eines besorgten westlichen Diplomaten viral ging, reagierte Kaja Kallas ungewohnt humorvoll und selbstironisch: mit einem Foto ihres tatsächlichen Frühstücks – Blaubeeren, Müesli, ein Heissgetränk. Kein Grund zur Sorge also.

Damals wurde die estnische Politikerin als mögliche Nachfolgerin von Jens Stoltenberg im Amt des Nato-Generalsekretärs gehandelt. Doch eine ausgewiesene Russenfeindin in dieser Position erschien dann doch einigen Entscheidungsträgern in westlichen Hauptstädten zu riskant. Als ein estnisches Onlinemagazin in London schrieb, sie habe die Rückendeckung aller wesentlichen Kräfte im Bündnis, sah sie sich gezwungen, dies zu dementieren. Es sei ein Aprilscherz gewesen. Nun ja, die waren auch schon besser.

 

Zerstörung von Nord Stream gefordert

Anders als in der Nato macht man sich in der Europäischen Union keine Gedanken, dass die 47-Jährige ein Risiko darstellen könnte. Soeben haben die Staats- und Regierungschefs der EU Kallas als nächste Aussenbeauftragte der Union nominiert, quasi als Aussenministerin. Auf die Qualifikation kam es dabei, wie bei allen Nominierungen für die Kommission, überhaupt nicht an. Es ging um Quoten: Frau, Osteuropa, liberale Partei. Drei Häkchen und fertig.

Dabei hätte es nicht geschadet, die bisherige Bilanz der estnischen Ministerpräsidentin unter die Lupe zu nehmen, vor allem ihr gestörtes Verhältnis zu Russland, Estlands grösstem Nachbarn.

Schon vor Beginn des Ukraine-Krieges forderte sie die Zerstörung der Nord-Stream--Pipelines in der Ostsee. Sie machte sich dafür stark, allen Russen die Einreise in die EU zu verbieten: Reisefreiheit sei ein Privileg und kein Menschenrecht. Und sie fantasierte von einer Zerschlagung Russlands. Schliesslich bestehe der grösste Flächenstaat der Welt aus «vielen verschiedenen Nationen», die «unabhängig werden könnten». Es sei «nichts Schreckliches, wenn die grosse Macht tatsächlich kleiner wird».

Solches Gerede ist nicht nur dumm, sondern es zeugt auch von einer erschreckenden Geschichtsblindheit: Diadochen-Kämpfe in einer zerfallenden Atommacht würden die Balkankriege nach dem Ende des Vielvölkerstaates Jugoslawien als Streit in der Krabbelgruppe erscheinen lassen. Und in solchen Händen soll künftig die Aussenpolitik der EU liegen. Da hätte man auch gleich -Annalena -Baerbock nehmen können.

Anders als bei der deutschen Aussenministerin war die politische Karriere von -Kallas praktisch schon bei der Geburt festgelegt. Sie entstammt einer estnischen Politiker--Dynastie. Ihr Urgrossvater, Eduard Alver, war einer der Gründer der ersten estnischen Republik 1918. Ihr Vater, Siim, bekleidete nach der Unabhängigkeit Estlands von der UdSSR ebenfalls das Amt des Regierungschefs. Dass er zuvor mit der Zeitung Rahva Hääl die Prawda der estnischen Kommunisten herausgegeben hatte, wurde rasch unter den Teppich gekehrt. Längst hatte er seine eigene «Reformpartei» gegründet, in der auch die Tochter Karriere machte.

 

Ehemann geschäftet mit Russland

Siim Kallas ging der Tochter auch nach Brüssel voraus. Zehn Jahre lang, von 2004 bis 2014, war er in mehreren Kommissionen Estlands EU-Kommissar. Kaja Kallas hat freilich auch schon europäische Erfahrungen. Von 2014 bis 2018 sass sie in der Fraktion der europäischen Liberalen im Europa-Parlament.

Als liberal konnte man freilich ihre anschliessende Politik als Regierungschefin in Tallinn nicht bezeichnen. Sie drangsalierte vor allem die grosse russische Minderheit im Land, die mit immer neuen Massnahmen zur Aufgabe ihrer nationalen Identität gezwungen werden soll. Als sie Anfang des Jahres den Abriss zahlreicher Denkmäler aus Sowjetzeiten in der mehrheitlich von Russen bewohnten Grenzstadt Narwa anordnete, hatte der Kreml genug. Moskau setzte Kallas auf seine Terroristenliste und schrieb sie bei Interpol zur Fahndung aus.

Innenpolitisch hinterlässt Kallas einen Scherbenhaufen. Estland steckt in einer Depression und leidet unter einem Haushaltsdefizit.

Auch ihre Politik der harten Kante nehmen ihr viele Esten nicht mehr ab, seit bekannt wurde, dass ihr Ehemann an einer Logistikfirma beteiligt ist, die trotz westlicher Sanktionen mit Russland geschäftet. In den letzten Monaten, so die Zeitung Postimees, kam die Regierungsarbeit fast ganz zum Stillstand, weil alle auf das grüne Licht aus Brüssel warteten.

Wen sich die EU mit ihr eingefangen hat, wird sie schnell feststellen. Denn auch wenn Kaja Kallas keine Russen zum Frühstück verspeist, heisst das nicht, dass ihr der Appetit total vergangen ist.