Mitte Juni findet auf dem wunderschönen Bürgenstock, dessen Zauber-Resort die Fürstenfamilie von Katar auf das Vortrefflichste saniert hat, eine als «Friedenskonferenz» deklarierte Veranstaltung statt. Von aussen hat man den Eindruck, das von Bundesrat Ignazio Cassis geleitete Aussenamt sei einigermassen verzweifelt dabei, Konferenzteilnehmer aufzutreiben, weil es viele Absagen gab und die wichtigste Partei, Russland, nicht einmal eingeladen worden ist.

Den Medien entnehmen wir, vor allem bürgerliche Kollegen drängen den Tessiner Aussenminister, die Russen nun doch noch irgendwie in die Schweiz zu holen, denn es scheint im Bundeshaus doch dem einen oder anderen allmählich zu dämmern, dass eine Friedenskonferenz, an der in Kriegszeiten nur eine Kriegspartei mitmacht, im Grunde genommen gar keine Friedenskonferenz sein kann, sondern irgendetwas anderes, von dem man allerdings noch nicht so genau weiss, was.

Das Bürgenstock-Treffen ist trotzdem interessant, weil es die Verwirrung und Orientierungslosigkeit sichtbar macht, in der sich die Schweiz und vor allem ihr Aussenminister, den wir auf diesen Seiten immer wieder verteidigt haben, seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine befinden. Auf der einen Seite macht man mit beim Waffen- und Sanktionskrieg gegen Putin. Auf der anderen Seite beschwört man die verblassende Erinnerung an das, was einmal schweizerische Neutralität hiess.

Der Zwiespalt, die schiere Widersprüchlichkeit verkörpert sich in der Person des Aussenministers. Bundesrat Cassis hat in diesem Krieg so ziemlich jede Position und auch ihr Gegenteil vertreten. Vor dem Parlament verteidigte er sich als eisernen Gralshüter einer zeitgemässen Neutralitätsinterpretation, wie er sich sinngemäss ausdrückte. Gleichzeitig nahm er an Kundgebungen gegen Russland teil an der Seite des ukrainischen Präsidenten. Er gab Friedensformeln von sich, markierte allerdings auch den Falken, der die Russen mit den Sanktionen «in die Knie» zwingen wolle.

Hinter all den Verrenkungen und der halsbrecherischen Zeitgeist-Akrobatik des Tessiner Bundesrats, dessen Tragik darin besteht, dass er immer allen gleichzeitig gefallen möchte, stellen sich drei entscheidende Fragen. Erstens: Ist die Schweiz noch ein unabhängiges Land, oder ist sie ein Erfüllungsgehilfe fremder Mächte? Zweitens: Ist die Schweiz neutral, will sie es noch sein? Und drittens: Gilt in unserem Land die Rechts- und Eigentumssicherheit für alle hier rechtmässig Wohnenden?

Beunruhigenderweise finden sich genügend Argumente, um alle drei Fragen mit nein zu beantworten. Unabhängigkeit: Die Schweiz hat die Sanktionspakete der EU gegen Russland mehr oder weniger eins zu eins übernommen, ohne eigene Prüfung des Einzelfalls. Neutralität: Die Schweiz macht mit im Wirtschaftskrieg gegen Russland («in die Knie zwingen»), ist damit Kriegspartei und hat sogar Umweglieferungen von Waffen einseitig an die Ukraine zugelassen.

Ungut sieht die Bilanz auch beim Rechtsschutz aus. Die Schweiz hat sich einspannen lassen in die weltweite Enteignungskampagne gegen russische Gelder, staatlich wie privat. Sie hat sogar Russen auf die Sanktionsliste setzen lassen, die in der Schweiz seit Jahren wohnen, Steuern bezahlen, ihre Kinder in die Schule schicken und kein schweizerisches Gesetz verletzt haben. Ohne Anhörung, ohne Gnade hat man sie fallenlassen, so etwa die Familie des russischen Unternehmers Andrei Melnitschenko.

Hätte der Staat nicht den Auftrag, die hier sich rechtmässig Aufhaltenden vor Willkür zu schützen, ihnen wenigstens rechtliches Gehör zu schenken? Melnitschenko, aber auch Viktor Vekselberg, den sie ebenfalls abserviert haben in Bern, wollten ihre Sicht vor parlamentarischen Kommissionen vortragen. Doch ausser den Vertretern der SVP war fast niemand bereit, diesem Grundanliegen des Rechtsstaats Folge zu leisten. Das ist eine Schande für unser Land und ein Verhalten, das der Schweiz noch schaden wird.

Denn einmal ganz abgesehen von den Einzelschicksalen dieser «Milliardäre», gegen die in der Politik Affekte wie Neid oft überwirksam sind, müssen wir uns die Frage stellen, wer wir sind und wer wir sein wollen. Wir haben uns zu fragen, warum so viele Unternehmer, Gelehrte, Leistungsträger, Konzerne aus der ganzen Welt ausgerechnet in der Schweiz gelandet sind. Wohl doch vor allem deshalb, weil sie den Frieden, die Stabilität und vor allem den Rechtsschutz vor Willkür und Enteignung schätzen.

Der Krieg in der Ukraine wird nicht ewig dauern. In diesem Krieg allerdings hat sich der Bundesrat, wohl auch deshalb, weil er sich getragen fühlte von einer Mehrheit in Bevölkerung und Medien, ein Verhalten zugelegt, das mit genau diesen weltweit an der Schweiz geschätzten Qualitäten direkt im Widerspruch steht. Er hat die Neutralität teilweise ausser Kraft gesetzt, die Unabhängigkeit suspendiert und die Rechtssicherheit gegenüber russischen Staatsbürgern regelrecht geschreddert.

Offenbar glauben die in Bern tonangebenden Politiker, die Schweiz könne sich das leisten. Wir werden sehen. Eine Schweiz am Gängelband von EU und USA ist keine Schweiz, in der sich Menschen ausserhalb dieser Machtsphäre besonders wohlfühlen. Die Amerikaner, aber auch die EU-Funktionäre heizen den Handelskrieg gegen China an. Bereits melden sich prominente Meinungsmacher, es brauche jetzt eine «Freihandelsallianz» der «Demokraten» gegen die «Despoten». Kauft nicht ein bei Putin oder Xi!

Hat die Schweiz noch die Kraft, sich aus diesem neuen Kalten Krieg herauszuhalten? Oder knickt sie ein unter dem Druck der Amerikaner und der EU, die den Krieg gegen Russland zum Anlass nehmen, die Reihen zu schliessen mit Blick schon auf die nächste Konfrontation – China? Will die Schweiz noch neutral sein? Die meisten Parteien lassen die Neutralität fallen, unter den Medien ist die NZZ am neutralitätsverdrossensten. Bleibt die Bevölkerung, die, immerhin, der Neutralitätsinitiative zum Durchbruch verhalf.

Auf dem Bürgenstock bündeln sich diese schweizerischen Zerrissenheiten, verdichtet sich das Bild dieser neutralitätspolitischen Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Wir möchten die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Konferenz trotzdem ein Erfolg wird. Das wäre der Fall, wenn es der Schweiz gelingt, die Kriegsfreunde des Westens auf den Verhandlungsweg des Friedens zu führen. Als Propagandagipfel der Anti-Russen allerdings wäre der Bürgenstock nur ein weiterer Sargnagel unserer Neutralität.