New York

Das Gefühl eines existenziellen Kampfes hat die Hauptstädte Europas ergriffen. Führende Politiker wie der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson schlagen Alarm: «Wenn die Ukraine fällt, ist es eine Katastrophe für den Westen, das Ende der westlichen Hegemonie, ein Wendepunkt in der Geschichte.» Der ehemalige polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erklärt: «Ein Scheitern in der Ukraine könnte der Anfang vom Ende des goldenen Zeitalters des Westens sein.» Wie konnte ein Konflikt, der fast ein Jahrzehnt lang als internes Problem der Autonomie östlicher ukrainischer Gebiete geschwelt hatte, zu einem Konflikt existenzieller Dimensionen für den Westen werden? Und was ist «der Westen»?

Vieles wurde über die unmittelbaren Ursachen des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine gesagt und geschrieben. Die vorherrschende Meinung im Westen lautet, dass Russland als Aggressor handle und sich im Konflikt mit dem Anspruch der Ukraine auf Freiheit und Demokratie befinde, während Russland seine Handlungen als Reaktion auf die fortschreitende Integration der Ukraine in den Orbit der Nato betrachtet. Diese gegensätzlichen Ansichten werden als fundamentale Probleme wahrgenommen, die wenig Spielraum für Kompromisse übriglassen: Für westliche Führer wie Johnson handelt es sich dabei um einen Kampf zwischen Freiheit und Tyrannei, während Russland eine Ukraine, die in ein westliches Militärbündnis integriert ist, als Bedrohung für die eigene Sicherheit betrachtet. Für beide Lager ist der Sieg zwingend. Es gibt keine öffentlichen Gespräche zwischen den Konfliktparteien, und kein Weg zu einer Entspannung ist in Sicht.

 

Konfrontation vermeiden

Viel weniger Aufmerksamkeit ist den Spaltungen zugekommen, die seit Jahrhunderten auf dem europäischen Kontinent bestehen; entlang dieser Spaltungen sind zahlreiche Konflikte entstanden. Viele dieser vergangenen Konflikte stürzten die politischen Eliten ihrer Zeit. Der Krieg Frankreichs gegen Russland zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Ende eines vereinten Europas unter Napoleon. Beide Weltkriege im 20. Jahrhundert umfassten grosse Schlachten zwischen Deutschland und Russland; der Erste Weltkrieg brachte das Ende des Russischen Reiches und der Zweite Weltkrieg das Ende des deutschen Dritten Reiches. Jedes Mal verschoben sich die Grenzen, und jedes Mal erlitten die kriegführenden Parteien unermessliche Verluste an Menschenleben. So gründen die Äusserungen europäischer Führer in der historischen Vergangenheit und drücken zugleich als Vorahnung aus, dass wir an einem ähnlichen Wendepunkt angelangt sein könnten. In den kommenden Monaten wird viel auf dem Spiel stehen, und selbst wenn sich eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland vermeiden lässt, wird der Schaden für die Ukraine und ihr Volk unermesslich sein, die Gebietskarten werden neu gezeichnet werden, und der alte Kontinent erleidet eine tiefe Spaltung.

Das Projekt der europäischen Einigung ist ein Modell mit einer eingebauten Bruchlinie.Obwohl viele erkennen, dass dies nicht der erste Konflikt zwischen dem «Westen» und Russland ist, wurde wenig darüber diskutiert, zu welchen möglichen Lösungen eine solche Einsicht führen könnte. Ein Ansatz könnte darin liegen zu analysieren, wie andere tiefe Bruchlinien auf dem europäischen Kontinent überwunden wurden. Nach den beiden Weltkriegen hatte der Wunsch, eine Wiederholung der apokalyptischen Schlachten zwischen Frankreich und Deutschland zu verhindern, oberste Priorität. Der Prozess begann mit den Römischen Verträgen im Jahr 1957, die sowohl Frankreich als auch Deutschland als gegenseitige Nutzniesser einer gemeinsamen Handelsunion integrierten.

Als Zentrum der wachsenden Europäischen Union wurde Brüssel, die Hauptstadt des in früheren Konflikten neutralen Belgiens, gewählt. Die Logik dieser Entscheidung war offensichtlich – die Balance sollte nicht einseitig zugunsten von Frankreich oder Deutschland ausfallen. Der Ansatz hatte historische Vorläufer: Vor über einem Jahrtausend regierte König Karl der Grosse, auch «Vater Europas» genannt, über grosse Regionen Europas, inklusive des heutigen Frankreichs und Deutschlands, wobei die Zentren von Karls Reich in derselben geografischen Region wie die aktuellen Zentren der Europäischen Union lagen. Es funktionierte. Ein grosser Krieg auf dem europäischen Kontinent wurde praktisch undenkbar.

 

Kontinuität des Römischen Reiches

Jedoch wurden keine entsprechenden Überlegungen angestellt, um das Potenzial für Konflikte zwischen den Ländern des «Westens» und Russland zu überwinden. Haben die Gründer der EU vergessen, darüber nachzudenken? Es wäre verständlich; Westeuropa und sein Verbündeter, die Vereinigten Staaten, waren bereits in einen Kalten Krieg mit der Sowjetunion verwickelt, und solange diese existierte, gab es keine Aussichten auf eine Expansion nach Osten. Nach der Auflösung der Sowjetunion erweiterte sich die EU mit den bestehenden Machtzentren, die eben wesentlich darauf ausgerichtet waren, die Spaltungen in Westeuropa zu überwinden. Zum Beispiel verlieh die Stadt Aachen 2023 dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj den jährlichen Karlspreis für Bemühungen um die Einigung Europas. Aber das Projekt der europäischen Einigung, basierend auf einem westlichen Modell, das auf Karl den Grossen zurückgreift, ist auch ein Modell mit einer eingebauten Bruchlinie, die bis heute Reibungen verursacht.

Ein entscheidender Moment in der Entstehung des Westens ist die Krönung des fränkischen Königs Karls des Grossen zum römischen Kaiser im Jahr 800 n. Chr. durch Papst Leo III. Zu dieser Zeit suchte das Papsttum militärischen Schutz vor den einfallenden Langobarden. Leo III. sorgte sich ebenso um die Kontinuität des Römischen Reiches, obschon dieses im Osten unter der Führung von Kaiserin Irene ohne Unterbruch fortbestand. Zuvor hatte der Papst den römischen Kaiser in Konstantinopel als Herrscher über das gesamte Ost- und Westreich anerkannt. Die Verlegung der weltlichen Autorität Roms nach Westeuropa bedeutete auf dem Kontinent eine Teilung des jeweiligen Weges für Ost und West. Es hat vor allem den Regenten und Völkern Westeuropas den Glauben an eine göttliche Bestimmung für die Grösse Roms verliehen. Die entstehenden Staaten wetteiferten darum, das Banner der Führung Roms zu tragen. ›››

Staaten richten sich oft nach einem historischen Modell. In der Entstehung westeuropäischer Länder sowie der Vereinigten Staaten – «des Westens» – galt vor allem das ursprüngliche, italische Rom als Vorbild. Kiew und Moskau orientierten sich stärker nach dem östlichen Rom, auch bekannt als das Byzantinische Reich, in Konstantinopel. Das legitime Rom, war – wen überrascht es? – natürlich das eigene, ebenso wie die eigene Religion oder Ideologie die legitime war.

Diese Aufspaltung brachte eine Polarisierung und hat Platz geschaffen für Konflikte. Die ideologische Kluft, die unter christlicher Führung entstanden ist und bei der es um Unterschiede im christlichen Glauben ging, lässt sich leicht in die Gegenwart übertragen, sei es als Kommunismus gegen Kapitalismus, als Demokratie gegen Autokratie oder als «westliche Werte» gegen Traditionalismus. Der Standpunkt des Ostens erscheint dem Westen nicht legitim. Der Ursprung der Spaltung blieb bestehen, und so haben unterschiedliche Probleme sowohl denselben Kern wie auch dieselbe Lösung.

Als der römische Kaiser Konstantin beschloss, die Hauptstadt des Römischen Reiches von Rom nach Konstantinopel – dem heutigen Istanbul – zu verlegen, tat er dies, weil er glaubte, dass das Gleichgewicht innerhalb des Römischen Reiches gefährdet sei und dass das riesige Reich, das von Britannien bis Ägypten und rund um das Mittelmeer reichte, nicht mehr allein von Italien aus regiert werden könne. Rom blieb Treffpunkt des Senats und das kulturelle Zentrum des Römischen Reiches, während der Kaiser von Konstantinopel aus regierte. Die Einschätzung von Kaiser Konstantin, der im jetzigen Serbien geboren wurde, könnte heute immer noch gültig sein. Das Potenzial für Zusammenarbeit auf dem alten Kontinent könnte dort liegen, wo es historisch gesehen Frieden, wenn auch unvollkommenen, über einen weiten kulturellen Raum hinweg erreicht hat. Die Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul Anfang 2022 wurden zwar vom Westen nicht gewürdigt und scheiterten, gaben aber dennoch einen wichtigen Hinweis darauf, wo ein solches Potenzial liegen könnte.

 

Istanbul, grösste Stadt Europas

Der hier vorgeschlagene Ansatz zur Europäischen Befriedung und Einigung besteht darin, die Entscheidungszentren an historische Orte, Rom und Istanbul, mit der Türkei als prominentem Mitglied zu verlagern. Obwohl dies die unmittelbaren Probleme nicht löst, ermöglicht es neue, politisch tragfähige Positionen in Bezug auf Osteuropa und den Nahen Osten. Es wäre eine Union, die auf ein konstantinisches Rom vor der Ost-West-Spaltung anstelle jenes Karls des Grossen zurückgreift. Während Rom sein 2777. Jahr Existenz feiert, hat die Stadt eine Statue von Konstantin enthüllt, was auf die fortwährende Faszination dieser Persönlichkeit und ihre heutige Relevanz hinweist.

Diese Idee mag zunächst wie eine Illusion erscheinen, aber das Potenzial ist vorhanden und die Ansätze sind da. Die Europäische Union begann auf dem Kapitolshügel Roms, eine symbolträchtige Wahl, und Rom wurde als «Hauptstadt» einer Europäischen Union in Betracht gezogen. Die Türkei reichte 1987 ihren Antrag auf EU-Mitgliedschaft ein, erlangte 1999 den Kandidatenstatus, aber die Verhandlungen verliefen langsam, und 2019 stimmte das Europäische Parlament dafür, die Verhandlungen über den vollen Beitritt zu stoppen. Unter den Gründen werden Rückschritte in der Demokratie genannt. Positiv daran ist, dass dies immer noch Raum für Verhandlungen lässt, auch über eine Rolle für Istanbul, die grösste Stadt Europas mit einer Bevölkerung von über fünfzehn Millionen Menschen. Die Einbeziehung der Türkei würde das Gleichgewicht in einer Union merklich verschieben und die Perspektiven auf Probleme verändern. Ob das Interesse besteht, eine solche Verschiebung zu ermöglichen, ist wohl die entscheidende Frage. Europa, Serbien, die Türkei, und der Mittelmeerraum haben den immensen Vorteil einer verbundenen Geschichte und der geografischen Nähe. Es besteht jedoch auch mehr und mehr der Weg einer Orientierung Richtung Asien, so dass das Fortbestehen dieser Möglichkeiten keine Selbstverständlichkeit ist.

Ressourcen, die für Konflikte ausgegeben werden, fehlen für Bemühungen zur Integration.Zur Zeit Kaiser Konstantins war das Christentum eine von mehreren Religionen im Römischen Reich und wurde erst später zur alleinigen offiziellen Religion erhoben. Als die osmanischen Herrscher von Konstantinopel den Titel eines römischen Kaisers beanspruchten, argumentierten sie, dass für Rom eine Änderung zum Islam nicht anders sei als die frühere Änderung zum Christentum. Dieses Argument wurde im Westen nicht akzeptiert. In Berlin im Jahr 2003 brachte Präsident Erdogan das Argument vor, dass die Türkei «ein Beispiel geben wird, dass die Europäische Union kein christlicher Klub ist». Religion hat heute in Westeuropa nicht mehr das gleiche Gewicht wie vor Jahrhunderten oder sogar vor zwei Jahrzehnten, doch «westliche Werte» heben den alten Kontrast erneut hervor. Die Unterschiede selber ändern sich; sie sind nicht das eigentliche Problem, vielmehr ist es die Kluft, die hinter diesen Unterschieden steht. Die Strukturen, welche es ermöglichen würden, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und Differenzen auszugleichen, werden nicht etabliert, andere Perspektiven stehen damit nicht zur Debatte, und die Kluft wächst.

Nun, da sich die Frontlinien in der Ukraine zu verschieben beginnen und die etablierten Strukturen Europas das Gewicht des Konflikts mittragen, werden Fragen nach einer Lösung lauter. Europas Interesse an Expansion und einer Rolle in der Welt ist vorhanden, aber eine Union, die einzig vom Westen dominiert wird, ist für eine Entscheidung im Osten ungeeignet, weil die Kluft zwischen Ost und West nicht durch gezielte Aktionen ähnlich wie bei Frankreich und Deutschland überwunden wurde.

 

Rolle des Papsttums

Es geht um viel: Ressourcen, die für Konflikte ausgegeben werden, fehlen für Bemühungen zur Integration. Einige Länder wie Serbien oder auch die Schweiz werden Vorbehalte haben, sich einem Block im Konflikt anzuschliessen. Der Drang, einen Konflikt zu gewinnen, verdrängt andere Perspektiven, wird bürgerliche Freiheiten beschneiden, die Verletzung moralischer Grenzen und grundlegender Prinzipien bewirken, Spaltungen vertiefen und das Vertrauen in unsere Institutionen beeinträchtigen. Dies betrifft auch die Schweiz, denn sie ist Teil des Westens, sowohl historisch als auch heute, wie ersichtlich ist am Ton in den Medien und an der Beteiligung an Sanktionen gegen Russland, welches mittlerweile der Schweiz die Neutralität abspricht.

Es gibt eine bessere Option: die Bildung einer politischen Union mit Schwerpunkten, die bewusst darauf ausgerichtet sind, ein Gleichgewicht herzustellen, um die Ost-West-Spaltung zu überwinden. Als historischer Referenzpunkt bietet sich das Römische Reich zur Zeit Konstantins an. Da das Papsttum und die Kirche eine bedeutende Rolle bei der Formierung des Westens gespielt haben, werden sie auch unverzichtbar dafür sein, die Brücke nach Osten zu bauen und die Vision für ein neues Gleichgewicht zu erschaffen. Ein Verweis auf den ersten christlichen Kaiser Roms könnte dabei hilfreich sein. Es stellt sich auch die wichtige Frage, ob eine Union, welche verschiedene Perspektiven aus dem Osten und dem Westen integriert, zu ausgewogeneren Entscheidungen im Nahen Osten führen könnte. Wenn Herodotus, der in Kleinasien geborene Historiker, auf die Studentenproteste an der Columbia-Universität schauen könnte, würde ihn das bestimmt interessieren. Die Entschärfung des Potenzials einer Konfrontation zwischen dem Westen und dem Osten sowie dem Rest der Welt würde immens zum Frieden beitragen.

 

Dieter Egli ist Associate Professor of Developmental Cell Biology an der Columbia-Universität, New York, USA.