Ostern steht vor der Tür, das Fest der Auferstehung und Vergebung aller Sünden, im Grunde die Essenz des christlichen Glaubens: Mach dir keine Sorgen, hör auf, dich abzustrampeln, um nach Rechtfertigung zu streben. Jeder Mensch ist gerechtfertigt, ist ein Geschöpf nach dem Bild Gottes, mit Geist beseelt und geschaffen aus dem Nichts durch die schöpferische Liebe des Allmächtigen. Was wäre das für ein Gott, wenn er sich durch die Handlungen der Menschen in seiner Allmacht beschränken liesse, wenn man ihn gleichsam bestechen könnte durch Wohltaten, Gaben und Opfer, um so sein Wohlgefallen zu erhaschen, eine Abkürzung auf dem Weg in den Himmel?

Die christliche Erzählung von Gott und dessen Menschwerdung in Gestalt Jesu Christi ist die grösste und unglaublichste Geschichte, die jemals erzählt wurde. Nicht wenige sehen in ihrer Unglaublichkeit den ersten Gottesbeweis. Selber hätte der Mensch niemals auf so eine Geschichte kommen können, unmöglich, die Geschichte einer Gottheit, DER Gottheit, die sich ihrer Allmacht begibt, als schreiendes Baby in einem Kuhstall zur Welt kommt, später Wundertaten vollbringt, Gottes Liebe zu den Menschen predigt, um sich am Schluss von ebendiesen Menschen, weil sie Gottes Liebe in ihrem Hochmut nicht ertragen, auf schändlichste Weise erniedrigen, foltern und abschlachten, ans Kreuz nageln zu lassen – die damals verächtlichste Art der Hinrichtung.

Als die frühen Christen, allesamt Juden, begannen, sich diese Geschichte zu erzählen, als diese Geschichte sich nach den Zeugnissen der Apostel genau so zutrug um Christi Geburt, neigten die Menschen, wie heute, zur Verherrlichung, zur Anbetung von Macht und Erfolg. Schwäche wurde verachtet. Die Menschen der Antike, davon erzählen ihre Mythen, glaubten, durch Höchstleistung, durch Selbstperfektion zu den Göttern aufzusteigen. Als Jesus zur Welt kam, regierte in Rom der Kaiser, Augustus, der Erhabene, der Menschengott. Die Geschichte von Jesus ist die mächtigste Gegengeschichte, die krasseste Widerlegung dieser Machtanbetung, dieses Machtkults der Menschen. Sie ist die Geschichte einer Liebe, die so gross und bedingungslos und ungetrübt ist durch jeden Egoismus, dass sie am Ende über die Macht, ja sogar über den Tod triumphiert und den uns angeborenen Selbsterhaltungstrieb.

Die Geschichte, die sich die Christen erzählen, bleibt eine Provokation, eine ewige Kränkung des Hochmuts.

In jedem erfolgreichen Hollywoodfilm, in zahllosen Sagen und Märchen von Wilhelm Tell bis James Bond oder Hänsel und Gretel kommt die Szene, der «Django»-Moment, in dem sich der geprügelte, am Boden liegende Held erhebt, sich das Blut aus dem Gesicht wischt, seine letzten Kräfte zusammenrafft, sein Maschinengewehr auspackt oder sein Laserschwert, um seine Peiniger, die Bösen in einem grandiosen Vergeltungsfinale aus der Kulisse zu fegen. Das Publikum liebt diese Geschichten, weil wir solche Geschichten hören wollen: der Held, der den Bösewichtern endlich das Maul stopft, sie aufs fürchterlichste bestraft, vor Gericht bringt, ihnen zurückzahlt, was sie ihm und anderen angetan haben.

Jesus Christus ist ein Held ganz anderer Art. Im Moment seiner grössten Erniedrigung, verhöhnt und ausgelacht von den Folterknechten Roms, befallen ihn brennende, höllische Zweifel der Verlorenheit. Er glaubt, Gottvater habe ihn verlassen. Und wir fragen uns: Wie ist das möglich, und, vor allem, wie ist das zu verstehen, dass der sich in seinem ans Kreuz genagelten Sohn verkörpernde allmächtige Gott, Schöpfer aller Milchstrassen, Planeten und Lebewesen, der zornige Gott des Alten Testaments, Vertilger der Städte, Urheber der Sintflut, sich so etwas bieten lässt? Warum packt er nicht endlich sein Laserschwert, den Zauberstab seiner Allmacht aus, um diesen himmeltraurigen, undankbaren arroganten, sich selber für Gott haltenden Menschenschurken den Meister zu zeigen?

Doch den Hass und Hochmut, die erbarmungswürdige Schwäche seiner Folterer übertrumpft, besiegt, beschämt Jesus-Gott mit der bedingungslosen, absoluten, mit seiner anti-egoistischen Überliebe – eigentlich verrückt und gegen alle Instinkte, die nach Vergeltung schreien, die den Hass mit Hass zerstampfen wollen. Doch Jesus, obschon sie ihm das Niederträchtigste antun, verwirft die Menschen nicht. Selbst seine Freunde und Apostel haben ihn verraten, verleugnen ihn. Trotzdem nimmt er sie an – «denn sie wissen nicht, was sie tun» – in all ihrer Verwerflichkeit, in all ihrer Bösartigkeit und Verkommenheit. Die Menschen, das ist wohl hier die Botschaft, sind nicht verdammt, sie sind geliebt. Das heisst: Sie sind gerechtfertigt vor Gott, vor dem Allmächtigen, vor seiner Gnade, und damit sind sie frei.

Das ist, das war die Weltrevolution des Christentums, der Urknall der Freiheit im Universum des Geistigen, die grosse Wende in der Geschichte der bis dahin die Macht anbetenden und die Ohnmacht verachtenden Menschheit: Mit der Auferstehung von Jesus Christus aus dem Felsengrab beginnt der Mensch erstmals aufrecht zu gehen, furchtlos, eine Auferstehung auch im Politischen. So beginnt mit Ostern die Geschichte der Demokratie, der Menschenrechte, der modernen Welt und auch der Schweiz mit ihrem Schweizerkreuz.

Die Geschichte, die sich die Christen erzählen, bleibt eine Provokation, eine ewige Kränkung des Hochmuts, und natürlich haben die Menschen, gerade die Christen, den Glauben, der eben mehr ist als Wissen, weil er das Herz packt, immer wieder missbraucht, um sich selber zu erhöhen, zu vergotten. Es ist kein Zufall, dass das Christentum heute gerade in Europa einen schweren Stand hat. Wenn die Menschen wieder sich selber und das von ihnen Fabrizierte, Gemeinte und angeblich Durchschaute anbeten, haben sie Mühe, sich in einem Gefühl demütigen Getragenseins einem Höheren anzuvertrauen.

Doch solche Glaubenskrisen hat es immer gegeben. Sie kommen und gehen. Gott, das Ewige, das Unfassbare aber bleibt und das Wunder einer Schöpfung, die wir niemals begreifen, in deren gewaltigen Zusammenhang wir uns aber in unserer ganzen durchschlagenden Winzigkeit stellen können. Im Vertrauen darauf, wie Joseph Ratzinger, dieser geniale Theologe, es einmal ausgedrückt hat, dass dem Mächtigsten, dem Grössten nichts klein genug ist, um es mit seiner Liebe zu erreichen. Frohe Ostern!