St. Wolfgang

Gleich nach dem Weltwoche-Auftritt von Gerhard Schröder im «Dolder Grand» geht’s weiter nach Österreich. Ich bin eingeladen von Klaus Ortner, dem Eigentümer der gleichnamigen Unternehmensgruppe zu einer Managementtagung am Wolfgangsee. Ortner ist seit über fünfzig Jahren Weltwoche-Abonnent, Absolvent der ETH in Zürich. Seine Vorfahren haben 1903 einen Installationsbetrieb gegründet. Daraus ist inzwischen ein stolzer Konzern mit mehreren tausend Mitarbeitern geworden. Klaus Ortner, Jahrgang 1944, trieb die Expansion entschlossen und sehr erfolgreich voran. Er ist ein Patron von überwältigendem Charme, humorvoll, bodenständig und bescheiden wirkend. Er scheint dauernd zu lachen. Seine gute Laune steckt an. Am liebsten sei er im Büro, dort fühle er sich wohl. Soweit ich es beurteilen kann, lieben ihn seine Mitarbeiter geradezu.

Ich soll von meinen Reisen berichten und über die zunehmende Verbürokratisierung der Wirtschaft in Europa. Zunächst bin ich beeindruckt von der wunderschönen Landschaft. Der Wolfgangsee ist eines dieser zauberhaften Gewässer, von denen es auch in der Schweiz eine ganze Menge gibt. Aber jedes Mal, wenn ich die Gelegenheit habe, ins Österreichische zu reisen, berührt mich die Lieblichkeit der Umgebungen, die idyllische Verspieltheit der ländlichen Architektur. Auch um ihre Bauernhäuser sind die Österreicher zu beneiden. Die Schweiz ist ebenfalls schön, aber bei uns ist vieles strenger, kalkulierter, ein Spürchen kälter. Wir Schweizer, Weltmeister der Nüchternheit, kommen mit einem Taschenrechner im Hirn auf die Welt. Bei den Österreichern, habe ich das Gefühl, ist, was das Leben angeht, irgendwie mehr Herz, mehr Gemüt im Spiel.

Wer Mauern baut, hat sich schon aufgegeben, vertraut nicht mehr auf seine Stärken.

Mein Referat ist ein Aufruf gegen Brandmauern und diesen neuen absurden kalten Krieg, in den sich unsere Welt hineinzusteigern scheint. Während die angeblich sozialistischen und autokratischen Länder im Osten immer kapitalistischer und, gemessen an ihrer Geschichte, freier werden, sind die kapitalistischen Gesellschaften des Westens meines Erachtens im Begriff, immer sozialistischer und unfreier zu werden. Dieser Befund deckt sich mit der Analyse von Mario Draghi, dem früheren Chef der Europäischen Zentralbank (EZB). In einem 393-seitigen Bericht zeichnet er ein dramatisches Bild. Er spricht von existenziellen Gefahren und bedrohlichen Wachstumsschwächen. Seine Lösung aber scheint mir untauglich: Draghi fordert mehr staatliche Ausgaben, mehr Schulden, die er vergemeinschaften will, vor allem auf Kosten der Deutschen.

Die Ortner-Gruppe drückt, wie mir in Gesprächen deutlich wird, vor allem das neue Regulierungsmonster, genannt ESG, «Environmental, Social and Governance», eine einzige Zumutung an Vorschriften und Behinderungen, die im Zuge der grünen Klima-Ideologie der europäischen Wirtschaft nun auch noch aufs Auge gedrückt werden soll. Für mich ist dieses von den Medien meist unkritisch bejubelte Bürokratenkonstrukt ein weiterer Schlag gegen die freie Marktwirtschaft. Wenn ich nun in der Financial Times lese, ESG sei im Grunde noch viel zu behutsam und schwach, um die Wirtschaft auf Welt- und Klima-Rettungskurs zu trimmen, beschleichen mich unheilvolle Ahnungen. Sind wir wieder einmal dabei, das, was unsere Vorfahren mühselig erarbeitet haben, aus purem Übermut in Trümmer zu legen?

Wohlverstanden. Auch ich bin für Umweltschutz. Darüber muss zu Recht geredet und gestritten werden. Aber ich wäre von den Resultaten dieser Diskussionen überzeugter, wenn es wirkliche Diskussionen wären. Tatsache ist aber, dass ausgerechnet die Demokratien des Westens, nehmen wir nur Deutschland und die Schweiz, sich die Denkverbote der «Political Correctness» zu eigen gemacht haben. Statt ergebnisoffen zu debattieren, ist meistens schon von Anfang an klar, zu welchen Schlüssen man gefälligst zu kommen habe. Das war bei ausnahmslos allen grossen Streitfragen unserer Zeit der Fall: Klima, Migration, Corona, Ukraine. Wehe, einer kam auf die Idee, die offiziellen Erzählungen von Gut und Böse in Zweifel zu ziehen. Widerspruch ist unerwünscht. Leider machten die Medien, auch die Unis, nur allzu willfährig mit bei dieser moralisierenden Abwürgung einer demokratischen Gesprächskultur.

Das alles rächt sich bitter. Früher oder später schlägt die Wirklichkeit zurück. Wir sehen und spüren bereits die Folgen dieser ideologisch durchwirkten Einseitigkeit: Die Migration ist ausser Kontrolle. Unsere Sozialstaaten sind überfordert. Die Energieversorgung funktioniert nicht mehr. Die von überdrehten Feindbildern gesteuerte, auf Konfrontation statt auf Kompromiss gebürstete Ukraine-Strategie des Westens droht nicht aufzugehen. Und allmählich verdichtet sich der zunächst diffuse Unmut zur Gewissheit, mit unserem Wohlstand könnte es bald zu Ende sein. Allerdings bleibe ich optimistisch, dass die Not auch diesmal klug macht und erfinderisch. Nicht zum ersten Mal haben sich erfolgreiche Gesellschaften von ihren bewährten Rezepten, Freiheit, Eigenverantwortung, Marktwirtschaft, gelöst, um dann, eben notgedrungen, zu den soliden Werten zurückzufinden.

Eine der grössten Gefahren derzeit ist die Abschottung. Der Westen ruft nach Sanktionen und Brandmauern gegen die aufstrebende Konkurrenz aus dem Osten, aber auch aus dem Süden. Doch wer Mauern baut, hat sich schon aufgegeben, vertraut nicht mehr auf seine Stärken. Dabei wären unsere «offenen Gesellschaften», wenn sie wirklich offen wären, allen autoritäreren und weniger offenen Systemen an Innovationskraft weit voraus. Der Geist braucht Freiheit, um sich zu entfalten. Und noch etwas ist wichtig: Wir müssen weg vom Protektionismus, zurück zum Freihandel, dieser grössten kulturellen Errungenschaft der Zivilisation. Eben sagte Donald Trump, der Kandidat der Republikaner in den USA, Russland und China seien für die Amerikaner keine Feinde, sondern Partner. Das wäre eine gute Tonspur für die Zukunft. Dreht der Wind im Westen? So ausgeschlossen ist das nicht.