Manchmal kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf einmal fühlen sich alle oder zumindest jene, von denen ich glaubte, sie hätten gar keine, in ihren religiösen Gefühlen verletzt, vor allem unter Journalisten und Politikern. Das schweizerische Kollektivreservoir an religiösen Gefühlen scheint noch nie grösser gewesen zu sein, führen wir uns diesen Sturzbach des Hasses, ja, des heiligen Zorns vor Augen, diese gnadenlose Cancel-Culture, die nun über die einstige Vorzeigepolitikerin Sanija Ameti hereinbricht, weil sie in ihrem Keller zu Hause die fast schon wieder bewundernswerte Dummheit an den Tag legte, mit einer Luftpistole nicht nur auf die Kopie eines christlichen Heiligenbilds zu schiessen, das sie einem Kunstkatalog entnommen hatte, sondern die von ihr treffsicher durchlöcherte Zielscheibe mit Jesus und Maria auch noch auf Instagram zu posten.

Nie gehörte ich zum grossen Fanklub der jetzt so schlagartig in Ungnade Gefallenen. Im Gegenteil fand ich ihre Darbietungen meistens eher unangenehm bis peinlich. Bei einer gemeinsamen Diskussionsveranstaltung in Bern, zu der sie mit erheblicher Verspätung, ohne sich dafür auch nur ansatzweise zu entschuldigen, in einer militärischen Kampfuniformjacke erschienen war, bezeichnete sie mich gemäss ihrem wortgetreu abgelesenen Spickzettel als «Feind im Innern, den man entsprechend behandeln muss». Ein Wunder eigentlich, hat Ameti am letzten Wochenende in ihrem Luftpistolenkeller nicht auf ein Bild von mir gefeuert.

Schon damals missfielen mir die eisige Humorlosigkeit und dieser so penetrante Hang zur moralisierenden Überheblichkeit. Obwohl sie sehr nervös war, trat sie auf wie jemand, der absolut davon überzeugt ist, dass man Grosses von ihm erwartet und noch Grösseres zutraut. Jeden Piepser, den sie von sich gab, griffen die Medien stets voller Begeisterung auf. Wundert sich da eigentlich noch einer, dass es Ameti in den Kopf stieg? Irgendwann musste sie fast zwangsläufig an den hochtrabenden Unsinn glauben, den die Medien über sie erzählten. Ja, ihr Ehrgeiz, die blinde Gier nach Aufmerksamkeit trieben sie in den Abgrund, machten sie blind.

Ein Wunder eigentlich, hat Ameti in ihrem Luftpistolenkeller nicht auf ein Bild von mir gefeuert.

Aber die Verblendung rührt auch daher, dass sie offensichtlich unter all ihren Freunden, Kollegen, Parteigenossen und Journalisten keinen Widerstand fand, an dem sie hätte reifen können.

All jene, die sie nun teeren und federn wollen, kreuzigen, die ihr Steine nachwerfen und tonnenweise Gülle, sind die Gleichen, die sie zuvor hochgejubelt oder zumindest nicht auf den Boden zurückgeholt haben, die sie im Glauben liessen, sie sei eine Ikone der Moral, das neue Wunderkind der Politik. Dabei konnte jeder, der ihr zuhörte und der kollektiven Hirnwäsche nicht gänzlich erlag, auf die Idee kommen, die Co-Präsidentin der Operation Libero, die gleichzeitig in der Parteileitung der Grünliberalen sass, sei, wie die meisten, ein bisschen überschätzt.

Das, was jetzt passiert, hat sie nicht verdient. Die Partei liess sie fallen. Der Arbeitgeber will nichts mehr von ihr wissen. Die Medien schäumen. Wird man ihr demnächst noch den Pass entziehen? Ein neues Frömmlertum, ein religiöser Fanatismus scheinen die Schweiz elektrisch unter Strom zu setzen, und die Ameti-Kritiker schichten munter einen Scheiterhaufen nach dem andern auf. Offenbar hat die Junge SVP schon Strafanzeige eingereicht. Will man sie auch hinter Gitter bringen? Im alten Zürich unter Zwingli hätte man Ameti in der Limmat versenkt, doch damals, unter dem strengen Regime des Calvinismus, hätte ihr der Zürcher Stadtrat für den Abschuss eines Ikonenbilds, das für die reformierten Bilderstürmer Symbol katholischen Irr- und Aberglaubens war, womöglich auch einen Orden umgehängt.

Mit anderen Worten: Ich nehme den Ameti-Kritikern ihre plötzliche Bekehrung zum Christentum nicht ab. Der rasende Ernst, mit dem man hier auf einmal über «religiöse Gefühle» spricht, scherbelt in meinen Ohren ziemlich. Denn weder die Medien oder die Grünliberale Partei noch viele andere Politiker und Organe des Zeitgeists haben sich bisher als besonders religiös hervorgetan. Eher im Gegenteil. Man huldigt dem Säkularen und jubelt, wenn ein Künstler irgendwo das Kruzifix in Urin einlegt oder den Papst durch einen Meteoriten erschlagen lässt. Kann man Ameti dafür ans Kreuz nageln, dass sie im Einklang mit unserem religionsmüden Zeitgeist vielleicht glaubte, die Verwendung eines Kunstkatalog-Titelbilds mit einem Heiligenmotiv als Zielscheibe beim Luftpistolentraining sei schlimmstenfalls ein moralisches Bagatelldelikt, viel eher aber eine reizvolle «religionskritische» Provokation, auf die ihre Gönner abfahren?

Nun, sie hat sich geirrt. Aber vielleicht ist sie daran nicht nur selber schuld. Jedenfalls glaube ich nicht, dass es in diesem Fall um religiöse Gefühle geht. Hier tobt sich etwas anderes aus, und zwar das gute alte Pharisäertum frei nach der Bibel: «Lieber Gott, ich danke Dir, dass ich nicht so schlimm wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher und, vor allem, nicht so schlimm wie diese Schlimmste aller Schlimmen, Sanija Ameti.»

Des Menschen liebste Gerechtigkeit ist und bleibt die Selbstgerechtigkeit.