An sich ist es zum Verzweifeln: Die Konjunktur in Deutschland will nicht anspringen. Gerade hat auch das fünfte und damit letzte jener Handvoll von Forschungseinrichtungen, die die deutsche Wirtschaft von rechts und links und oben und unten durchleuchten, die Daumen gesenkt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin erwartet Stillstand im laufenden Jahr. Die erhoffte Erholung der Industrie, die sich zu Beginn des Jahres angedeutet hatte, habe sich nicht bewahrheitet, sagt Institutschefin Geraldine Dany-Knedlik. «Die deutsche Wirtschaft steckt fest, und sie dümpelt in einer Flaute», fügt der Konjunkturchef des Münchner Ifo-Instituts Timo Wollmershäuser hinzu. Der Arbeitsmarkt hat sich gedreht. Eben wurden noch händeringend Leute gesucht, jetzt setzen die grossen Namen unter den deutschen Konzernen die Menschen vor die Tür: Volkswagen, Bosch, Conti – alle schieben Entlassungswellen an. Dazu kommt: Die Krise ist hausgemacht, überall sonst in Europa sieht es jedenfalls ein bisschen besser aus. Es ist also ein deutsches «Trauerspiel», das da gegeben wird.

 

«Geisterstrom» einfangen

Wirklich? «Ich lasse mich nicht von irgendeiner Tristesse in diesem Land anstecken», sagt Constantin Eis. Er sitzt in seinem Büro in Alzenau, einem mittelgrossen Kaff in der Nähe von Frankfurt mitten in Deutschland. Das weisse Hemd über der Hose, Pulli drüber, er kommt vom Start-up-Turbo Rocket Internet, hat mal die Immobilienplattform Home24 grossgezogen, an der Börse in New York war er auch schon, und jetzt ist er hier gelandet, bei CMBlu. Um ihn herum: ein Haufen Top-Ingenieure, Wissenschaftler und eine Handvoll verschwiegener Investoren. Was sie machen, ist made in Germany pur: Es verbindet KI und Erfindergeist, und es löst ein Problem, das auf den Nägeln brennt.

Und das geht so: Die Bundesregierung will, dass in Deutschland vier bis fünf neue Windräder gebaut werden – am Tag. Das Dumme daran: Wenn der Wind bläst, produzieren sie zu viel Strom und müssen mangels Speicher- und Transportmöglichkeiten abgeschaltet werden. Dafür erhalten die Betreiber eine Entschädigung. Das Gleiche gilt für Solarparks. Es fliesst also Geld in Deutschland, obwohl kein Strom fliesst. «Geisterstrom» ist kein schlechtes Wort für dieses absurde Phänomen. 2021 wurden so 800 Millionen Euro in den Wind geblasen, berechnete die Bundesnetzagentur, Tendenz seither steigend.

Die Ghostbusters kommen jetzt von CMBlu und lösen nicht nur dieses Problem spektakulär. Am Anfang vor mehr als zehn Jahren stand dabei die Idee von Peter Geigle, einem leidenschaftlichen Mediziner und Biochemiker, der sich sagte: Die Natur hatte Millionen Jahre Zeit, um Energiespeichersysteme zu entwickeln, die Pflanzen für eine Durststrecke ohne Licht und Wasser auskommen lassen, und es auch Menschen ermöglichen, Stunden und Tage ohne Nahrung zu überstehen. «Und sie hat sich nicht für Metallspeicher entschieden», sagt Constantin Eis. Und was der Biochemiker ahnte, hat sich bewahrheitet: CMBlu kann Batterien bauen, die bis auf einen kupfernen Stromabnehmer ohne Metalle und ohne irgendwelche seltenen und garantiert nur in China befindlichen Erden auskommen.

«Organic Solidflow» nennt sich das System. Das Speichermedium ist ein einfaches, aber gut patentiertes Granulat, das Spezialchemieunternehmen tonnenweise produzieren können. KI hilft dabei, das Speichermedium laufend zu optimieren. Erst der Erfinder und heutige Aufsichtsrat Geigle, dann Constantin und jene Grossinvestoren, die hinter ihnen stehen – sie sind die wahren Nachfolger jener Alchimisten, die jahrhundertelang nach dem Stein der Weisen suchten, der angeblich unedle Metalle in Gold verwandeln sollte. Mit dem Unterschied: Sie haben ihn gefunden. Besser: Sie haben die Batterie der Weisen entwickelt. Wenn es gut läuft, werden sie Deutschland voranbringen. Mercedes ist als einer der ersten Kunden bereits dabei.

 

KI-App für Wirte

CMBlu ist ein grossgewordenes Start-up. Die Zahl der Gründungen in Deutschland hat sich ins Positive gedreht: Im ersten Halbjahr 2024 waren es gegenüber dem zweiten Halbjahr 2023 rund 15 Prozent mehr. Mit 1384 Gründungen in den vergangenen sechs Monaten entwickelt sich die Sache dynamisch. Vor allem der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) treibt die Entwicklung voran. Sie führt oft zu effektiveren Lösungen. Überhaupt: «Effektiv» ist in der Szene gerade das Wort, welches das abtörnende Dauergequatsche von der «Nachhaltigkeit» ersetzt. Wirtschaft musste schon immer effektiv sein, das heisst: Mit möglichst wenig Einsatz möglichst viel von guter Qualität erzeugen. Bedeutet das nicht genau Nachhaltigkeit?

Die Frage könnte aus dem Mund von Daniel Khachab stammen. Auch er kommt wie Constantin Eis von Rocket Internet. Es ist offenbar eine verschworene Truppe, die sich da aufgemacht hat, Deutschland zu erneuern. Khachab hat Choco gegründet und ist sein Anführer. Choco entwickelt Technologien zur Vernetzung des globalen Lebensmittelsystems, um eines der grössten Probleme der Welt zu lösen: Lebensmittelverschwendung. Menschen produzierten doppelt so viele Nahrungsmittel, wie sie überhaupt brauchten, sagt Khachab. Das Essen landet im Müll, verschwindet im Lieferprozess, verdirbt. Liesse sich zielgenauer produzieren, sparte das Transport und Anbaufläche, aber auch Geld und Emissionen. Die Lebensmittelverschwendung zu minimieren, bringe dem Klima mehr, als den Verkehr zu elektrifizieren.

Also hat der Gründer das gemacht. Hat eine KI-schlaue Messenger-App für Wirte und Händlerinnen programmiert. Damit können sie ihre Lebensmittelbestellungen planen, abgeben und verfolgen, Rechnungen gehen direkt da ein. Das macht das Leben von Köchen, Restaurantbesitzern und ihren Lieferanten deutlich leichter. Keiner muss seine Bestellungen nach Restaurantschluss beim Gemüsehändler, bei der Fischfrau und beim Schlachter abgeben. Die App machts zielgenau, in dem sie alles zusammenführt, was in der Küche passiert. «Am Anfang», sagt Daniel Khachab, «sind wir mit unserer App hinten in die Küchen rein, haben uns zwanzig Sekunden vom Chefkoch anbrüllen lassen, bis der begriffen hatte, dass es funktionieren könnte.»

Ganz viele haben ganz schnell begriffen. 2018 in Berlin gegründet, erreichte Choco drei Jahre später 1,6 Milliarden Euro Aussenumsatz, ist in den Vereinigten Staaten aktiv, in Deutschland, Spanien, Österreich und ja: Paris. Jedes zweite Restaurant dort nutze die App. Oh, là, là. Demnächst will Khachab auch die Erzeuger direkt erreichen, die Bauern, die Züchter, die Fischer. Läuft also.

 

Demokratien schützen

«In Deutschland ist alles möglich», sagt Khachab. Alles andere seien Ausreden. «Es gibt genug Kapital. Es gibt genug Talente. Jedenfalls für die Guten.» Die Ideen, die er umsetzt oder die er weglässt, sortiert er so: Erstens – KI müsse dabei sein. «Wer keine KI nutzt, hat keine Chance. Ich bin total dafür, wir haben zu viele Leute, die repetitive Jobs machen.» Und zweitens erzählt er die Geschichte von der Generationenfolge: Die erste Generation habe Bäume gepflanzt, um ihren CO2-Fussabdruck zu verbessern. Die zweite habe ihre Prozesse optimiert, um möglichst wenig zu verbrauchen. Die dritte Generation von Unternehmen verdiene umso mehr Geld, je weniger CO2 produziert werde. Das sei dann wirklich effektiv und effizient.

CMBlu, Choco – sie profitieren davon, dass die Ampelregierung ausnahmsweise erkannt hat, was die Gründerszene für das Land bedeutet, und ein paar Schauben in die richtige Richtung dreht. Bisher mussten Beschäftigte in Start-ups ihre Firmenanteile auch dann versteuern, wenn sie daraus noch keinerlei Gewinne erzielt hatten. Potenzielle Arbeitskräfte schreckte dies ab. Gleichzeitig suchen Start-ups händeringend nach Talenten und konkurrieren dabei mit etablierten Unternehmen, die bessere Gehälter bieten. Steuerliche Lockerungen, die jetzt Gesetz geworden sind, können ein entscheidender Hebel sein, talentierten Nachwuchs zu finden. Auch Barrieren bei Börsengängen sollen abgebaut werden. Das nötige Mindestkapital sinkt. Der Gang an die Börse ist für viele Start-ups nicht nur eine blosse Exit-Strategie, sondern auch ein Weg zu frischem Kapital. ›››

Oder es läuft «Bombe» im wahren Wortsinn und die Investoren rennen einem die Bude ein. So wie beim Münchner Rüstungs-Start-up Helsing, eine der erfolgreichsten Neugründungen in Deutschland – was mit dem Krieg in der Ukraine zusammenhängt. Helsing hat in seiner jüngsten Finanzierungsrunde gerade weitere 450 Millionen Euro zusammengekratzt – so viel wie kein europäisches Defense-Tech-Unternehmen jemals zuvor. Und ist damit mit fast fünf Milliarden Euro bewertet. Die Münchner entwickeln «KI-basierte Fähigkeiten zum Schutz unserer Demokratien», wie es das Unternehmen selbst beschreibt. Das Start-up war bereits ein Jahr nach der Gründung in den Krieg gezogen: In der Ukraine stellt es seine Technologien für Operationen an vorderster Front bereit. Mit Hilfe der von Helsing entwickelten künstlichen Intelligenz sollen vor allem die Drohnen schlauer und selbstgesteuert fliegen und angreifen können.

 

Projekt Fussgängerstreifen

Der US-Wagniskapitalgeber General Catalyst, der bereits vergangenen September in Helsing investierte, führt die jüngste Finanzierungsrunde an. «Wir haben hier die einzigartige Chance, einen globalen Champion zu bauen», sagt Jeannette zu Fürstenberg, die für General Catalyst spricht. «Bei der Unterstützung dieses Unternehmens geht es nicht nur darum, europäische Deep Tech in ihrer besten Form zu fördern, sondern auch darum, in grundlegende Instrumente zu investieren, die zum Schutz unserer Demokratien beitragen und eine widerstandsfähige Zukunft für Europa ermöglichen», meint sie. Ihren Geschäftszweck definieren die Münchner, die inzwischen Standorte in Paris und London haben, selbst so: «Es ist Helsings Anspruch, als europäischer Technologievorreiter demokratische Gesellschaften zu befähigen, souveräne Entscheidungen zu treffen und eigene ethische Standards durchsetzen zu können.»

Es ist ein markiger Satz, der zeigt, dass die Start-up-Szene längst aus der Berliner «Ich hab da einen Fussballtisch im Büro»-Gemütlichkeit hinausgewachsen ist. Manche formulieren sogar einen Führungsanspruch. Andere ignorieren die Krise um sie herum. So wie eben CMBlu-Chef Constantin Eis. Wenn er aus dem Fenster guckt, sieht er die Produktionshalle, in der sich ein Batteriepack aufs andere stapelt. Zwischen Labor und Produktion führt die gut befahrene Strasse nach Frankfurt hindurch. Während das Team vom CMBlu gerade den Planeten rettet, brütet die Gemeinde, in der CMBlu zu Hause ist, ob sie einen Fussgängerstreifen genehmigen soll, damit niemand von den Planetenrettern beim Überqueren der Strasse überfahren wird. Seit über zwei Jahren läuft das Projekt «Zebrastreifen für CMBlu». Gerade wurden zum dritten Mal die täglich vorbeibrausenden Autos und die verzweifelten Strassenüberquerer gezählt. Es könnte sich noch hinziehen.