Weltwoche: Vielen Dank, cher Emmanuel, fĂŒr die Bereitschaft zu diesem GesprĂ€ch. Sie haben sich in letzter Zeit in der Öffentlichkeit nicht geĂ€ussert.

Emmanuel Todd: Ich war in Japan, wo ein Buch von mir erschienen ist. Es ist ein Bestseller, von dem es keine französische Originalausgabe gibt. Sein Thema ist der Krieg in der Ukraine. In Frankreich habe ich mich nicht in die Debatten eingemischt. Ihnen gebe ich das erste Interview, denn Sie schreiben auf Deutsch. In diesem Krieg geht es um Deutschland.

Weltwoche: Bevor wir ĂŒber den Ukraine-Krieg sprechen, interessiert mich Ihre EinschĂ€tzung zu einer Nachricht, die jĂŒngst die Runde machte: Die Weltbevölkerung hat die Marke von acht Milliarden Menschen ĂŒberschritten. Was sagt der Demograf zu dieser Zahl?

Todd: Sie macht mir keine Angst. Beunruhigend ist die Tatsache, dass die Geburtenzahlen in allen entwickelten LĂ€ndern zurĂŒckgehen. In Deutschland und Japan sind sie seit langem unterdurchschnittlich: 1,4 und 1,5 Kinder pro Frau. FĂŒr die Erneuerung der Bevölkerung reicht das nicht. Jetzt sind die anderen LĂ€nder auch auf dieses Niveau zurĂŒckgefallen. In den USA hatte eine Frau zwei Kinder, inzwischen sind es 1,6; in China 1,3.

Weltwoche: Gleichzeitig wÀchst die Weltbevölkerung.

Todd: Wir haben eine schwierige Zeit mit vielleicht zehn Milliarden Menschen vor uns. Aber sie wird nicht lange dauern. Wirklich gravierend ist die demografische Depression. Taiwan und Korea produzieren die meisten Halbleiter auf der Welt. In SĂŒdkorea bringen die Frauen 0,8 Kinder zur Welt. In den produktivsten IndustrielĂ€ndern bricht die arbeitende Bevölkerung zusammen. In China, der Fabrik der Welt, geht in den nĂ€chsten zwanzig Jahren die Zahl der ArbeitskrĂ€fte um 35 Prozent zurĂŒck. Das ist einer der GrĂŒnde fĂŒr die Inflation.

Weltwoche: Und die Bevölkerungsexplosion in Afrika?

Todd: Vielleicht wird man in KĂŒrze ganz froh sein, dass es afrikanische ArbeitskrĂ€fte gibt.

Weltwoche: 1976 prophezeiten Sie den Zusammenbruch der Sowjetunion aufgrund der demografischen Entwicklung. Welche Rolle spielt die Demografie im Krieg in der Ukraine?

Todd: Wie in den ersten beiden Weltkriegen geht es um das Gleichgewicht zwischen den GrossmĂ€chten. Der Unterschied: Damals hatten wir es mit einer demografischen Expansion zu tun, heute mit einer Depression. Ein Jahrhundert lang hatten die Bevölkerungszahlen zugenommen: um 110 Prozent in Grossbritannien, 160 Prozent in Deutschland, 166 Prozent in Russland und 525 Prozent in den USA. In Frankreich beschrĂ€nkte sich das Wachstum auf 16 Prozent. Das Land war im Bereich des Automobils, des Baus von Flugzeugen, in der Film- und Atomindustrie fĂŒhrend.