Nicht mehr Jakob wird man Dich nennen,
sondern Israel (Gottesstreiter), denn mit Gott und
Menschen hast Du gestritten und hast gewonnen.

Buch Genesis, Kapitel 32, Vers 29

 

Von «westlichen Werten» ist wieder öfter die Rede, seit die Russen in der Ukraine einmarschierten. «Der Westen» müsse sich verteidigen gegen die Barbarei aus dem Osten, heisst es. Der mörderische Überfall der Hamas auf Israel hat die Aufmerksamkeit verschoben. Jetzt, fordern einige, müsse sich «der Westen» im Nahen Osten einer neuen, existenziellen Bedrohung widersetzen.

Ich will hier gar nicht unbedingt die Frage klären, ob in der Ukraine oder in Gaza tatsächlich «der Westen» als vage umschriebene Zivilisation gefährdet ist. Ich habe mich aber beim Lesen gefragt, was ich unter Westen verstehe. Was ist eigentlich gemeint, wenn von «westlichen Werten» die Rede ist? Was verteidigen wir oder was würden wir verteidigen, wenn der Westen wirklich angegriffen wäre?

Natürlich kann ich darauf keine abschliessende Antwort geben. Ich kann nur versuchen, aus meiner Sicht diesen Begriff zu definieren. Selber rede ich eigentlich nie von «westlichen Werten». Da steckt mir zu viel Anmassung, Arroganz, Selbstüberhöhung drin. Viele von denen, die vom «Westen» sprechen, schrecken mich ab. Sie sagen «Westen», aber sie meinen sich selbst – als etwas Besseres.

Das, was ich als Westen bezeichne, als Sammelwort für eine bestimmte Art zu leben und zu denken, geht auf drei antike Städte zurück: Jerusalem, Athen, Rom. Das ist für mich die Ur-Achse des Westens. Dies scheinen mir die Brennpunkte zu sein, die das «Abendland» geprägt, hervorgebracht haben. Alle drei Städte gehören zusammen, sie bilden die Keimzelle, die DNA unserer Kultur.

Jerusalem, Athen und Rom – die Freiheit, die Vernunft und das Recht: Das ist für mich der Westen.

Jerusalem: Das ist für mich die Heimstätte des Jüdischen, der Ursprungsort, den ich mit dem «Alten Testament», mit der Grundlagenschrift auch des Christentums, verbinde. Im Alten Testament sind, so weit ich das als Nicht-Theologe beurteilen kann, in wunderbaren Geschichten verpackt, die beiden zentralen Ideen, sozusagen das Ur-Gen unserer Zivilisation: die Skepsis und die Menschenwürde.

Eine berühmte biblische Geschichte handelt vom Tanz ums Goldene Kalb. Moses hat soeben von Gott die Gesetzestafeln empfangen und möchte dies dem von ihm geführten jüdischen Volk verkünden. Unten aber haben sie begonnen, in Moses’ Abwesenheit Kostbarkeiten einzuschmelzen, ein goldenes Götzenkalb zu errichten und wie wild darum herumzutanzen. Moses, voller Zorn, zertrümmert die Tafeln.

Nun kommt der interessante Teil. Gott, der schwer enttäuschte Schöpfer, der Allmächtige, teilt Moses mit, er werde dieses undankbare Volk vertilgen, auslöschen. Der Irrglaube, der Götzendienst müsse aufs Fürchterlichste bestraft werden. So eine himmeltraurige Truppe dürfe nicht mehr weiterleben. Offenbar habe er, Gott, sich darin geirrt, ausgerechnet dieses Volk für seine Zwecke zu erwählen.

Moses kontert, der erste und brillanteste Pflichtverteidiger der Weltgeschichte. Gott, argumentiert er sinngemäss, Du hast zwar recht, eigentlich müsste man sie alle im Meer versenken, doch bedenke: Wie käme diese Tat von Dir bei den Ägyptern an, denen wir alle eben erst dank Deiner Hilfe entflohen sind? Das gäbe dort bestimmt eine miserable Presse. Überleg’ es Dir nochmals.

Gott denkt nach – und lässt Gnade walten. Wir aber lernen dreierlei. Erstens: Gott ist barmherzig, er hat die Menschen trotzdem gern. Zweitens: Gott lässt mit sich streiten. Er ist offen für das bessere Argument. Drittens: Gott braucht die Menschen. Ohne Moses hätte Gott wohl falsch entschieden. Der Mensch ist zwar verführbar, voller Irrtümer, aber aufgeschmissen wäre der Allmächtige ohne ihn.

Das ist der Westen, im Kern, noch nicht in seiner politischen Vollendung, aber im Glauben, in der Religion, in der Theologie. Menschen sind nicht einfach Materie, Sternenstaub, sie sind von Gott, beseelt, sie haben einen Eigenwert, ja mehr noch: Gott verwirklicht sich in seiner Schöpfung, im Menschen, der sogar mit ihm streiten, ringen, das Allerhöchste herausfordern, in Frage stellen darf.

Das ist der Urknall, die Geburt des Westens in Jerusalem. Von dort zieht sich dann eine direkte Linie nach Athen und Rom. Im antiken Athen entstand die Philosophie, die Kunst des Bezweifelns, und Platon war der Moses der Vernunft. Das wiederum prägte die Römer, eher praktisch, kriegerisch veranlagt. Sie schufen das römische Recht. Einer der berühmtesten Römer, Cicero, war, kein Zufall, Anwalt.

Jerusalem, Athen und Rom – die Freiheit, die Vernunft und das Recht: Das ist der Westen. Alles, was nachher kommt, ist Fussnote, Ableitung: Vatikan, Renaissance, Reformation und Aufklärung. Das jüdische Erbe ist entscheidend, die ungeheure Vorstellung, dass Gott, der zornige, strafende Allmächtige, mit sich streiten lässt und den mit ihm streitenden Menschen braucht, um sich in ihm selber zu erkennen.

«Westen» heisst: Nichts ist heilig, nicht einmal das Heilige. Streit, Diskussion, Rede und Gegenrede sind der Boden, die Freiheit, alles zu bezweifeln, nichts zu glauben. Und die Juden sind das biblische Schmerzensvolk der Freiheit und somit Träger, Er-Träger einer Idee, die ganze Reiche zum Einstürzen brachte: Jeder Mensch ist voller Fehler und Irrtümer, aber er ist frei und hat seine Würde – von Gott.

Nichts ist schwerer zu ertragen als die Freiheit, als der Zweifel. Und nichts ist erfolgreicher. Vermutlich sind die Juden auch deshalb, bis heute, so gnadenlos gehasst und verfolgt worden. Und wenn es einen Ort gibt, an dem der Westen tatsächlich verteidigt werden müsste, wäre es wohl Israel, die Heimat jenes stets bedrohten Volks, dessen Geschichte wie keine andere aufs Intimste mit der Geschichte und den Werten unserer westlichen Welt verbunden ist.