Kürzlich war ich am Eröffnungsabend des Zürcher Filmfestivals. Ich habe für dieses Filmfest grosse Sympathie. Die Gründer, Karl Spoerri und Nadja Schildknecht, hatten Mut, als sie vor exakt zwanzig Jahren etwas Neues wagten. Die altehrwürdigen Wettbewerbe in Cannes, Venedig, Berlin oder Locarno huldigten dem europäischen Kunstkino, dem sogenannt anspruchsvollen Film. Auf die Erzeugnisse der Traumfabrik in Kalifornien schaute man naserümpfend herab. Unter Kritikern konnten die Filme nicht verkopft und verschwurbelt genug sein. Da kamen Spoerri und Schildknecht und luden gegen den Zeitgeist altgediente Hollywoodstars nach Zürich ein. Sie ernteten kübelweise Häme. Anfangs verlangte die Stadtregierung, man möge doch den Namen Zürich im Titel bitte nicht verwenden. Spoerri und Schildknecht zogen es durch. Mittlerweile suhlen sich nicht nur Zürichs Politiker im glamourösen Rahmen.

Den runden Geburtstagsjahrgang nahm das mittlerweile von der NZZ übernommene, stets mit finanziellen Problemen ringende Festival mit einem internationalen Aufgebot an Stars in Angriff. Den Anfang machte der britische Beau Jude Law, der einst als umwerfend schöner Millionenerbe «Dickie» Greenleaf in Anthony Minghellas grandioser Verfilmung des Patricia-Highsmith-Klassikers «Der talentierte Mr. Ripley» zusammen mit Matt Damon in der Rolle des charmanten Serienmörders den grossen Durchbruch schaffte. Law ist ein paar Jahrzehnte älter geworden, sieht aber immer noch gut aus. Sein neuer Film «The Order» allerdings ist düster. Zäh und finster erzählt er die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte einer rechtsextremen amerikanischen christlich-reaktionären Terrortruppe, die nur dank dem von Law gespielten FBI-Agenten daran gehindert werden kann, einen Staatsstreich anzuzetteln.

Das Kino ist die Kunst, den Menschen aus der Höhle seiner Vorurteile ins Offene zu entführen.

Leider bleibt der Film ohne jede Spannung. Der Wikipedia-Artikel über die Terrororganisation und deren aus gutem Hause stammenden Führer ist aufregender als das öde Drehbuch. Für Hintergründe und Figuren interessiert der Regisseur sich nicht. Es geht ihm einzig um politische Verkündigung, um die Botschaft, die Rechtsextremen seien das schlimmste Übel unserer Zeit und vielleicht schon bald mit Donald Trump im Weissen Haus. Das aber hat man nach der ersten Szene begriffen, doch geschlagene zwei Stunden geht es weiter. Fehlte eigentlich nur noch irgendwo an einem Laternenpfahl ein Plakat der blonden Reizfigur, um die Message noch aufdringlicher ins Bild zu rücken, doch Trump spielte in der Politik von damals eben keine Rolle.

So bleibt «The Order» bei allem Naturalismus der Milieus und Accessoires enttäuschend. Und er ist für mich auch irgendwie das Sinnbild für unsere heute so verkorkste Streit- und Debattenkultur beziehungsweise für die Tatsache, dass es an beidem mangelt. Wir leben im Zeitalter der Brandmauern und Bezichtigungen. Es gibt keine Auseinandersetzungen zwischen Andersdenkenden mehr. Wer etwas sagt, was Anstoss erregt, wird gecancelt. Die anderen schwelgen in moralischem Hochmut und betrügerischem Einvernehmen. Die Geschichte, die Kultur, die Literatur, auch der Film – sie dienen nicht mehr der neugierig forschenden Selbsterkundung, sondern fast nur noch als Reservoir von Feindbildern, die man mit dem Ziel ausgräbt, regelrecht aufmunitioniert, wie hier in «The Order», um im Heute andere herabzusetzen, um sie aus dem Gespräch der angeblich Zivilisierten, der Guten, der demokratisch Wohlgesinnten auszugrenzen.

Zur Eröffnung gab es zwei Politikerreden. Zürichs Stadtpräsidentin Corine Mauch trug keine Ansprache, sondern einen literarisch ehrgeizigen Text in dritter Person vor. Dort grübelte sie der Frage nach, ob sie überhaupt in der Lage sei, eine gute Rede zu halten. Länger verweilte sie bei der Erörterung des Phänomens, dass sie sich, da homosexuell, weniger vom Leinwandschönling Jude Law angezogen fühle, dafür von der leider nicht anwesenden Schauspielerin Tilda Swinton. Nach Mauchs Exkursen nutzte Bundesrätin und Kulturministerin Elisabeth Baume-Schneider die Gelegenheit, für Geschlechterquoten in der Schweiz zu werben. Anstatt das Festival zu loben, die Bedeutung der Kultur in kriegerischer Zeit zu würdigen oder wenigstens die Stadt Zürich zu verkaufen, nutzten die Rednerinnen ihre Bühne für eine eitle Ego-Show.

Da machte es Festivaldirektor Christian Jungen viel besser, aber sein Problem war, dass er diesmal so krass am eigenen Anspruch scheiterte. Letztes Jahr hielt er eine mutige Rede gegen Zensur und Cancel-Culture. In diesem Jahr knickte er selber ein vor der Zensur der ukrainischen Behörden. Sie wollten nicht, dass ein russischer Dokumentarfilm gegen den Krieg auf dem Festival zu sehen sei. Anstatt der Einmischung zu trotzen, nahm Jungen den Beitrag aus dem Programm und damit auch seine guten Vorsätze. Vielleicht spielte es eine Rolle, dass die Besitzerin des Festivals, die NZZ, in ihrer Zeitung einen obsessiv antirussischen Kurs fährt. Das Blatt, das sich so gerne als liberale Stimme gegen die Zensur erhebt, war zahm und kraftlos, als die Ukrainer, wieder einmal, Druck ausübten auf die Meinungsfreiheit in der Schweiz. Das Management unternahm nichts. Unglaubwürdig wirkte daher der lauwarme Widerspruch der Redaktion.

Jungens Kniefall ist unfreiwillig zeittypisch für eine Kulturszene, die weder die Kraft, meistens noch nicht einmal den Willen hat, dem politischen Zeitgeist etwas entgegenzuhalten. Auch Filme, Festivals könnten Orte der ernsthaften Auseinandersetzung sein, der Debatte und des offenen Gesprächs. Gerade dann, wenn Politik und Gesellschaft im Konformismus erstarren, wäre die Kultur das spielerische Feld der Meinungsanarchie, die der Beklemmung mit ihren Mitteln begegnet und sie damit auch aufbricht. Streit und Auseinandersetzung sind das Lebenselixier der Freiheit, der Demokratie. Indem ich streite, mich mit seinen Argumenten auseinandersetze, nehme ich den anderen erst ernst. Das Kino ist die Kunst, den Menschen aus der Höhle seiner Vorurteile und Konventionen raus ins Freie, ins Offene zu entführen. Versagt die Kultur, ist es am Journalismus, die Brandmauern zu knacken.