Die Sommerferien sind zu Ende. In den Zeitungen ist der Schulbeginn das grosse Thema. Die gute Nachricht lautet: Mittlerweile sehen auch linke Zeitungen die pĂ€dagogischen Reformen der letzten Jahre und Jahrzehnte kritisch. Die Volksschule war lange ein StĂŒtzpfeiler unserer Schweiz. Heute ist sie in akuter Gefahr. Hoffentlich ist es noch nicht zu spĂ€t.

Der wichtigste Grundsatz unserer Volksschule war das Leistungsprinzip. Egal, woher jemand kam, welcher Familie er entstammte, ob Professorensohn oder Tochter des Milchmanns: Am Schluss zĂ€hlten die Noten. Sie waren der SchlĂŒssel – zum Erfolg, zum Aufstieg, Wegweiser der Freiheit, denn nichts befreit mehr als die Leistung, die man in den Augen anderer erbringen darf.

Das war zu meinen Zeiten noch das Credo: Integration durch Leistung. Diskriminierung war verboten, mit einer Ausnahme: Diskriminierung durch Leistung. Die Guten, die Fleissigen, wenn auch die Fleissigen nicht immer, wurden mit guten Noten belohnt. Die anderen bekamen die Möglichkeit, es beim nÀchsten Mal besser zu machen. Die Schweiz hatte vermutlich eines der besten Schulsysteme der Welt.

Irgendwann in den achtziger Jahren begann das Leistungsprinzip in der Schweiz verdĂ€chtig zu werden. Ich kann mich erinnern, dass einzelne Lehrer bei uns am Gymnasium zu experimentieren anfingen. Ein hochmotivierter, idealistischer PĂ€dagoge im Fachbereich Biologie begann auf einmal, PrĂŒfungen und Noten auszusetzen. Das Niveau sank dramatisch. Die Folgen waren verheerend.

Heute lese ich Interviews, in denen HochschulpĂ€dagogen vor der Abschaffung der Noten warnen. Offensichtlich sind die von uns SchĂŒlern damals schon intuitiv als Irrlehren durchschauten Theorien salonfĂ€hig geworden. Sonst mĂŒsste man heute ja nicht davor warnen. Wie kann einer nur jemals auf die Schnapsidee gekommen sein, es sei dem Unterricht förderlich, die Noten abzuschaffen?

Eine Schule ohne Noten ist wie Fussball ohne Tore. Oder Arbeit ohne Lohn. Die notenfreie Schule ist ein Betrug, ein Betrug an den SchĂŒlern, aber auch ein Selbstbetrug der Lehrer. Wie meistens stehen gute Absichten am Ursprung des Übels. Man will den angeblich zerbrechlichen SchĂŒlern den angeblich unmenschlichen Leistungsdruck ersparen. TatsĂ€chlich ersparen sich die Lehrer die Last des ehrlichen Notengebens.

Keine Schule ohne Noten. Schulen ohne Noten sind Scheinschulen. Notenverweigerung bedeutet Leistungsverweigerung. Damit fĂ€llt die notenfreie Schule, die sich einbildet, besonders fortschrittlich zu sein, hinter die AufklĂ€rung zurĂŒck. Denn die Zeit der AufklĂ€rung brachte den Durchbruch des Leistungsprinzips. Nicht mehr Geburt und Herkunft zĂ€hlten, sondern Leistung. Das aber will gelernt sein. In der Schule. Mit Noten.

Eine Schule ohne Noten ist wie Fussball ohne Tore. Oder Arbeit ohne Lohn.

Eine andere Gaunerei ist die «inklusive Schule». So weit ich das Konzept verstanden habe, geht es darum, handicapierte SchĂŒler, lernschwache SchĂŒler oder SchĂŒler, die bedauerlicherweise Verhaltens- oder Intelligenzprobleme haben, in den normalen Klassen unterzubringen. Dazu braucht es dann, neben dem Lehrer, spezielle Fachleute, Therapeuten, LogopĂ€den, eine Armada von Betreuern.

Als ich meinen alten Seklehrer einmal fragte, wie es heute an der Schule so zugehe, sagte er mir, die Klassenzimmer seien zu klein geworden. Ich stutzte. Wir waren damals 23 Kinder und hatten ausreichend Platz. Ob denn die Klassen immer grösser wĂŒrden, fragte ich nach. Nein, kam die Antwort. Aufgrund der massiven Ausweitung des Lehrpersonals herrsche in den Klassenzimmern akuter Dichtestress.

Eine Schule, in der SchĂŒler nicht mehr nach Leistung geschieden werden, sei es durch Noten oder durch entsprechende Klassenbildung, ist eine Schule, in der die Leistung nicht mehr zĂ€hlt, sondern die Leistungsskepsis, ja die Leistungsfeindlichkeit zum Dogma erklĂ€rt wird. Kein Wunder, ist im gleichen Zug auch die AutoritĂ€t des Lehrers geschwĂ€cht worden, indem man ihm Verantwortung wegnimmt.

Bei uns waren die guten Lehrer Respektspersonen. Die meisten konnten sich ein Einfamilienhaus leisten. Sie waren im Klassenzimmer der Chef, PĂ€dagogen, Vortragsredner, Schiedsrichter, Seelentröster, strenge Bestrafer und Integrationsbeauftragte in einem. Heute scheint mir das Lehrerprofil zersplittert, verbĂŒrokratisiert. Viele arbeiten Teilzeit – Verantwortung aber ist unteilbar.

Über die Zuwanderung habe ich noch gar nicht gesprochen. Wie will man eine Schulklasse fĂŒhren, in der nur die wenigsten Kinder deutsch sprechen? Die babylonische Sprachverwirrung verschĂ€rft sich durch den Unsinn von FrĂŒhfranzösisch und FrĂŒhenglisch. Ich sehe es an den Kindern in meinem privaten Umfeld. Der Wirrwarr fĂŒhrt einfach dazu, dass sie keine Sprache richtig lernen, nicht mal Deutsch.

Im Tages-Anzeiger steht, bereits jeder fĂŒnfte SchĂŒler im Kanton ZĂŒrich besuche eine Privatschule. Zu meiner Zeit waren die Privatschulen fĂŒr die Reichen und Dummen. Die Guten gingen in die Volksschule. Nachher machten sie eine Lehre oder gingen sie ins Gymnasium. Wer eine Schweizer Matura hatte, war besser als die meisten Deutschen mit ihrem Abitur. Einer meiner Freunde, eher mittelmĂ€ssig, ging nach dem Gymi an die US-Elite-Uni Princeton und gehörte sofort zu den Besten.

Heute scheint es umgekehrt. Das einstige Leistungsethos der öffentlichen Schulen bewahren die Privatschulen – aber nur fĂŒr jene, die es sich leisten können. Damit entfĂ€llt eine der wichtigsten SĂ€ulen unseres schweizerischen Zusammenhalts, das Versprechen einer Chancengleichheit, dank der es jeder, der sich anstrengt, zu etwas bringen kann, auch wenn er nicht mit dem goldenen Löffel im Mund auf die Welt kam.

Wahrscheinlich sehe ich es, von aussen, etwas undifferenziert. Es ist auch nicht so, dass die Leistung in der Volksschule gÀnzlich verpönt wÀre. Aber etwas stimmt nicht. Das sehe ich auch daran, dass eigentlich alle Eltern, die ich kenne, ihre Kinder in die Nachhilfe schicken. Es ist eine regelrechte Nachhilfeindustrie entstanden. Woran liegt das? Hat unsere Volksschule an pÀdagogischer Kraft verloren? Offensichtlich.

Persönlich verdanke ich unserer Volksschule fast alles. Ich war sicher ein undankbarer SchĂŒler. Aber als Erwachsener bin ich meinen Lehrern unendlich dankbar fĂŒr alles, was sie fĂŒr mich getan haben und womit sie grosszĂŒgig fertiggeworden sind. Meine Lehrer halfen mir ĂŒber die holprige Jugend hinweg – indem sie die gleiche Leistung von mir forderten wie von allen anderen. Rettet unsere Volksschule!