Nein, Georgien ist noch keine Schweiz des Kaukasus. Dafür ist der Kleinstaat an der Südflanke Russlands zu arm. Auch gibt es in Georgien ein parlamentarisches System, keine direkte Demokratie. Die Neutralität allerdings ist im Kommen. Im Zuge des Ukraine-Krieges findet die Idee Anhänger, eine Bewegung existiert bereits. Die Georgier wollen mehr Europa, doch mit der Bürokratie in Brüssel fremdeln sie.

Einst herrschten Könige auf diesem Gebiet. Einer der berühmtesten, David, der Erbauer, vergrösserte sein Reich im Mittelalter auf die ganze Landverbindung zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Dann aber ritten die Mongolen ein, die Kirchen und Klöster verfielen, doch die Georgier kämpften sich zurück, bewahrten ihre Kultur, liessen sich nicht unterkriegen. Auch unter fremden Mächten blieben sie sich selbst.

Das gelang ihnen auch später, als einer ihrer Regenten die Russen um Hilfe gegen die Osmanen bat. Die Zaren liessen sich nicht zweimal bitten. Napoleon-Bezwinger Alexander I., der grosse Freund der Schweiz und Geburtshelfer der modernen Neutralität, verleibte Georgien seinem Russland ein. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion lebten die Georgier unter Moskaus Knute. Sie standen wieder auf.

Der grösste aller Georgier ist Stalin. Für seine Heimat hatte der Schreckliche wenig übrig. Bei den Russen geniesst «Väterchen» finsteren Respekt. Seine Herrschaft war brutal. Mit seinen Echsenaugen verkörperte er das Inbild des kommunistischen Tyrannen, doch man muss ihm attestieren: Es war seine Rote Armee, von den Deutschen sträflich unterschätzt, die Hitlers Wehrmacht das Rückgrat brach.

Unter höllischen Opfern. Stalin war ein Monster in monströsen Zeiten. In seiner Geburtsstadt Gori erinnert ein Museum an den Diktator, der die Sowjetunion mit blutiger Hand zwangsindustrialisierte. Die Erinnerungsstätte, ein bröckelndes Mausoleum, zu Sowjetzeiten Pilgerstätte, lässt für Kritik kaum Raum. Der Kult um Stalin muss kolossal gewesen sein. Hier lagern einige Relikte.

Georgien trägt, wie die Schweiz, ein Kreuz im Wappen, Rot auf Weiss, statt Weiss auf Rot. Das christliche Erbe ist wichtig, die konservative Tradition. Darum wollen die meisten Georgier in Ruhe gelassen werden von den Hirnflausen aus dem Westen, der Gender-Ideologie etwa oder den endlosen Diskussionen um die Beschriftung von Toiletten. Diese, unsere Welt wirkt hier wie eine ferne, absurde Galaxie.

In der Hauptstadt, die nach ihren heissen Schwefelquellen benannt ist, herrscht trotz tieferem Lebensstandard mehr Ordnung als in Berlin oder Paris. Es ist nicht so, dass täglich Menschen, sogar Kinder abgestochen werden von kriminellen Asylbewerbern. Die Georgier halten sich selber nicht sklavisch an ihre Gesetze, aber die Stadt wirkt ruhig, auch am Abend. So muss es in Zürich vor sechzig Jahren gewesen sein.

Hier versteht man nicht, was mit Europa los ist. Wie können die Deutschen nur ihre mit so viel Schweiss errichtete Wunderwirtschaft zugrunderichten? Billige Energie aus Russland, riesige Märkte in China, und alle Rüstungsausgaben bezahlen die Amerikaner: Das sei doch das Paradies auf Erden, sagt mir ein Parlamentarier und früherer Unternehmer, der an der berühmten Columbia University New Yorks studierte.

Georgien kann sich diese Dekadenz nicht leisten. Mit dem Klima-Sozialismus unserer Grünen muss man diesem gastfreundlichen, tolerant und weltoffen wirkenden Volk nicht kommen. Georgien träumt vom Wohlstand, den wir, auch in der Schweiz, mit vollen Händen vergeuden. Vielleicht ist es ausgleichende Gerechtigkeit. Hier mussten die Menschen so lange unten durch. Das macht tüchtig. Und pragmatisch.

Unsere Medien prügeln auf die Regierung ein. Sie ist ihnen nicht russlandfeindlich genug. Dafür haben die Georgier null Verständnis, ausser sie sind jung und marschieren für die Opposition, die ihre Wahlniederlage vom letzten Jahr nicht akzeptiert, obwohl für den behaupteten Betrug keine Beweise vorliegen. Die EU und Washington wollten Georgien zum Krieg gegen Putin anstacheln. Doch die Georgier sagten nein.

Darin liegt das grosse Verbrechen dieser Regierung in den Augen ihrer Gegner. Aber sind die gleichen Leute, die uns die Masseneinwanderung, Windräder, Corona-Lockdowns und die «woke» Ideologie brachten, verlässliche Ratgeber in Sachen Geopolitik? Daran zweifeln viele Georgier, wer will es ihnen verargen. Sie sind nicht für Putin, aber deswegen sind sie noch lange nicht bereit, sich den Russen in den Rachen zu werfen.

Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem sich der Schweizer angesprochen fühlt. Auch Georgien ist ein Kleinstaat unter Raubtieren, ein verwundbares Land, das im Einflussbereich von Imperien die Kunst des Überlebens üben musste. Byzanz, Mongolen, Osmanen, Russen: Da hatten es die Eidgenossen mit den Österreichern, den Franzosen und den Deutschen fast leichter.

Grosse Staaten können sich grosse Fehler leisten, Kleinstaaten nicht mal kleine. Das ist der Wirklichkeitssinn, die Klugheit der Georgier, die sie im Westen nicht verstehen. Dieses kleine Land sucht einerseits den Schutz vor Russland, das ja, aber nicht um den Preis eines neuerlichen Kriegs. Deshalb ist Vorsicht gefragt, Subtilität, ein schlaues Balancieren, eine Art Neutralität, die in Kriegszeiten immer unter Verdacht gerät.

Putins Panzer stehen eine Autostunde von der Hauptstadt Tbilissi entfernt in den von Russland widerrechtlich besetzten Gebieten. Haben sie das in Brüssel vergessen? Dennoch waren die armen Georgier mutiger als die Schweizer, die dem Druck der EU und der USA nachgaben und Teile ihrer Neutralität beerdigten. Georgiens Regierung verteidigt ihre Unabhängigkeit entschlossener, Vorbild für heimatmüde Eidgenossen.

Noch ist Georgien keine Schweiz am Kaukasus, doch es will, es könnte eine werden. Die Menschen lieben ihr Land, auch die jungen Wilden, die gegen die Regierung auf die Strasse gehen. Wie die Schweiz liegt Georgien an einer Kreuzung, nicht im Herzen Europas, dafür an der Grenze zwischen Europa und Asien, Norden und Süden. Weltoffenheit ist Trumpf. Und Pflicht. Dazu aber braucht es den Willen zur Unabhängigkeit, die Kraft, den Grossen zu trotzen.

Wir Schweizer könnten uns an Georgien ein Beispiel nehmen.