Nein, nicht alle Blicke sind an diesem Mittwoch auf die USA gerichtet. Russlands Aussenminister Sergei Lawrow, im blauen Anzug, weisses Hemd, keine Krawatte, betritt mit gewohnt schlenderndem Gang die Bühne. Er ist der erfahrenste Weltdiplomat aus dem oberen Hubraum, fast so lang im Amt wie sein Chef Putin. Hätten wir keinen Krieg in der Ukraine, wäre es vermutlich erlaubt, ihn einen der coolsten Politiker der Gegenwart zu nennen. Es gibt ein Bild von ihm, wie er auf einem Balkon in Shorts mit einem T-Shirt, auf dem der Name des Künstlers Basquiat steht, irgendwo in Südfrankreich Zeitungen liest. Eine seiner unterschätzten Leistungen besteht darin, dass er sich inmitten des Wahnsinns seinen Sinn für Humor bewahrt, trotz Krieg und dem Gegendruck, den sich sein Land durch den Einmarsch in der Ukraine aufgehalst hat, nach Meinung vieler im Westen verbrecherisch und zu Recht.

Bei den Feinden Russlands

Ich habe die Möglichkeit, mit Lawrow ein paar Worte zu wechseln am Rand des Waldai-Treffens in Sotschi. Zu meiner Überraschung ergibt sich ein etwas längerer Austausch, der sich, obwohl ich eigentlich etwas anderes gefragt habe, um die Schweiz dreht und ihre Neutralität. Das Wichtigste gleich vorweg: Die Schweiz ist eine Art Reizthema für Russland, aber auch ein Thema schmerzlichen Bedauerns, es beschäftigt sie, vor allem der Entscheid des Bundesrats, nicht nur die Neutralität teilweise preiszugeben durch seine Teilnahme am Wirtschaftskrieg der EU gegen Putin und Russland. Was besondere Irritationen auslöst, sind die anhaltenden Bemühungen unserer Bundespräsidentin Viola Amherd und ihres Armeechefs Thomas Süssli, die Schweiz ins Militärbündnis Nato einzuschmieden. Die Schweiz, meint Lawrow, gleite weg von der Neutralität. Damit schlage sie sich auf die Seite der Feinde Russlands.

Dass man solche Feststellungen in der Schweiz gerne als freche russische Drohungen wegwischt, sofern man sie überhaupt zur Kenntnis nimmt, macht deutlich, wie sehr uns der Sinn für elementare politische Zusammenhänge abhandenzukommen scheint. Es gibt ein russisches Sprichwort: Wenn ein Vogel seine Beine auf den Boden klebt, einbetoniert, wird er früher oder später gekillt. Auch Lawrow verwendet sinngemäss solche Bilder, um die Lage einer nicht mehr neutralen Schweiz zu beschreiben. Die politische Spitzkehre erklärt man sich dadurch, dass die Schweiz gegen Russland gewettet habe im Krieg. Jetzt, da sich die Planspiele des Westens zu zerschlagen drohen, finde man sich plötzlich auf der falschen Seite der Geschichte wieder.

Sein oder Nichtsein

Wenn ich das hier ausführlich in Erinnerung rufe, dann nicht deshalb, um die Leser zu erschrecken, sondern um Verdrängtes etwas ins Licht zu rücken. Die strategische Debatte in der Schweiz übersieht den grossen Denkfehler der Amherds, Süsslis und vieler Profis aus der Meinungsbranche, ihr verstümmeltes Verständnis der Neutralität. Der grosse Wert der Neutralität, ihre Sicherheitsfunktion, besteht darin, dass sie die Schweiz davor beschützt, ein potenzielles Kriegsziel zu werden. Natürlich ist sie keine Garantie. Es braucht eine starke Armee. Aber der Neutrale ist niemandes Feind. Das ist entscheidend. Durch ihre kopflose Sanktionsübernahme der EU, ohne Gegenleistung, und seine Nato-Anwandlungen hat der Bundesrat die Schweiz ins Visier der Atommacht Russland geschoben.

Ob es uns passt oder nicht: Die Russen, mit denen wir immer beste Beziehungen hatten, die uns auch zur Neutralität mitverhalfen am Wiener Kongress 1815, betrachten die Schweiz heute als feindseligen Staat. Das muss uns zu denken geben und kann kein Zustand auf Dauer sein. Meine persönliche Meinung ist: Wir müssen die Totengräber der Neutralität stoppen, unser Land wieder raushalten aus der Wildnis, aus der blutigen Arena der internationalen Grossmachtpolitik. Hier geht es ums Überleben. Es geht um Sein oder Nichtsein der Schweiz. Wer die Axt anlegt an unsere Neutralität, ermordet unser Vaterland, zerstört eine entscheidende Voraussetzung unserer Sicherheit und damit unserer Existenz. Wohlstandsverwöhnt, aufgewachsen auf den Errungenschaften unserer Ahnen, fehlt uns heute, vielen vor allem in der Politik, ein Bezug zur Wirklichkeit, zum Ernst des Krieges.

Wenn sogar bürgerliche Organisationen wie Valentin Vogts neutralitätsmüde «Allianz Sicherheit» die suizidale Nato-Politik von Amherd und Süssli vorantreiben, kann einem nur angst und bange werden. Zum Glück gibt es da noch eine SVP und auf der Linken mässigende Stimmen, darunter, Sie lesen richtig, Fabian Molina. Die Schweiz rutscht auf einen Abgrund zu. Sind wir Schweizer uns dessen bewusst? Und wenn ja, haben wir eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Bringt die Neutralität zurück. Oder frei nach dem schwindelerregend wiedergewählten Comeback-Künstler Donald Trump: «Make Switzerland neutral again.»