Draussen ist es dunkel. Ich steige ins Auto. Es klingelt. Rückruf. Am Telefon ist Gerhard Schröder. Der frühere Kanzler, letzter Gralshüter der «strategischen Autonomie» Europas im Irakkrieg gegen die USA und mit seinen Hartz-Reformen Retter der deutschen Wirtschaft, erkundigt sich nach meinen Erfahrungen in Sotschi. Wir reden über das Friedenspodium in Wien, als Schröder mit Viktor Orbán über die Situation in der Ukraine diskutierte. Ungarns Premier wählte zum Abschluss drastische Worte: Er mache sich ernsthafte Sorgen, dass Europa wirtschaftlich «verrecke».

Die Lage also ist ernst. Fast jede Woche erreichen uns Hiobsbotschaften aus der Industrie. Fabriken werden geschlossen, Leute entlassen. Die Autokonzerne liefern bestürzende Gewinnwarnungen. In Berlin versinkt eine wild in alle Himmelsrichtungen blinkende «Ampel» im politischen Verkehrschaos, das sie selber verursacht. Weithin verbreitet sich das Gefühl, die da oben können es nicht. Der Verdruss an der politischen Klasse nimmt zu. Ausgerechnet jene Parteien, vor denen die Medien am meisten warnen, haben den grössten Zulauf. Mittendrin, wie gelähmt, ein Kanzler, Olaf Scholz.

Was sagt Gerhard Schröder dazu? Ich stelle fest, dass in allen Gesprächen mit Deutschen oder auch mit Schweizern, die in Deutschland leben, gelebt oder gearbeitet haben, sein Name immer öfter mit einem Beiklang wehmütiger Anerkennung erwähnt wird. Der Kurswert des Niedersachsen, lebenslanger Sozialdemokrat, als «Kanzler der Bosse» Verkörperung des sozialdemokratischen Traums vom sozialen Aufstieg aus der Nachkriegsbaracke bis ins Berliner Regierungszentrum, legt merkbar zu. Verzeiht man ihm jetzt die Freundschaft mit Putin? Sein Rang als Reformer rückt leuchtend ins Bild.

Redet Schröder wie ein alter Indianerhäuptling in Rätseln? Will er mich auf eine Fährte locken?

Kann ich Schröder ein paar zitierbare Sätze zum Elend seiner Nachfolger entlocken? Der Altkanzler winkt ab. Das schicke sich nicht, doch einen Satz wolle er mir diktieren: «Valde miramur.» Ich ahne das Latein, aber die exakte Übersetzung erschliesst sich mir gerade nicht. «Valde miramur», wiederholt Schröder und lacht in den Hörer. Merkwürdige Assoziationen gehen mir durch den Kopf. Redet Schröder wie ein alter Indianerhäuptling in Rätseln? Will er mich mit seinen raunenden Andeutungen auf eine bestimme Fährte locken? Schröder bietet Hilfe an und übersetzt gleich selber: «Wir wundern uns sehr.» Alles Weitere finde man im Lexikon.

Zu Hause durchforste ich das Internet. «Valde miramur», erfahre ich bald, ist eine alte, einst gebräuchliche Formel in der katholischen Kirche, der Schröder übrigens nicht angehört, mit der Kardinäle oder andere hohe Würdenträger ihr Missfallen an fehlbaren, unfähigen oder sich seltsam verhaltenden Kollegen zum Ausdruck brachten. «Wir sind sehr verwundert»: Das klingt zurückhaltend, fast freundlich, war aber sozusagen das Äusserste, die vernichtendste Form der Kritik, eine Art Todesurteil, das ein Kleriker einem anderen Kleriker gegenüber äussern konnte. Und zurück zu Schröder: Wenn in Deutschland alles tost und durcheinander plappert, hört man das knappe Wort vielleicht am deutlichsten.

Man wundert sich in der Tat. Ich aber wundere mich nicht nur über Scholz und seine Ampel. Dass es die einen nicht fertigbringen, sieht man jetzt. Aber hat Oppositionsführer Friedrich Merz, der mutmassliche Scholz-Nachfolger, den Ernst der Lage wirklich erkannt? Da drängen sich mir Zweifel auf. Was ist in einer Krise das Wichtigste? Erstens: Man muss sich eingestehen, dass man in einer Krise ist. Zweitens: Man muss sich klarmachen, dass man selber für die Behebung der Krise verantwortlich ist. Drittens: Man muss mit allen zusammenarbeiten, die einem helfen, vor allem mit denen, die einem sachlich am nächsten stehen. Jeder Berufsmensch kennt das. Es gibt da diesen einen Kollegen, unausstehlich, man mag ihn nicht, und trotzdem muss man mit ihm zusammenarbeiten, weil das Problem sonst nicht zu lösen wäre.

Und genau da klemmt’s. Kanzler Schröder sagte: «Germany First» und stellte Deutschland zuoberst, über sein Amt, seine Partei, die Aussichten auf die Wiederwahl. Merz sagt: «Brandmauer First.» Seine Brandmauer stellt er über Deutschland. Die AfD, mit der er partout nicht zusammenarbeiten will, macht er grösser, wichtiger als die Bundesrepublik. Aber man kann doch nicht, würden seine Kollegen in der Parteileitung soufflieren, mit einer Partei zusammenwirken, die einen wie Björn Höcke in ihren Reihen duldet. Warum eigentlich nicht? Merz stellt auch Höcke über Deutschland. Höcke über alles? Anscheinend traut der Mann, der Deutschland retten will, sich selber nicht zu, einen Thüringer Regionalpolitiker in Schach zu halten, der gar nicht in der Berliner Regierung sässe.

Warum eigentlich sollten CDU und AfD zusammenspannen? Weil beide Parteien politisch am meisten verbindet. Gemäss Umfragen finden das zumindest rund 70 Prozent der Schweizer. Und Schweizer sind keine «Nazis», nur weil sie Deutschland, auch aus wirtschaftlichem Eigeninteresse, eine solide bürgerliche Mehrheit wünschen. Das müsste Merz eigentlich auch. Doch seine eigene Brandmauer hindert ihn daran, das zu wagen, was er wollen muss. Mauert er weiter, verurteilt er sich zur Koalition mit einer SPD, die ihn bremsen, die an ihm noch tonnenschwerer hängen wird als seinerzeit an Schröder. Läuft Friedrich Merz Gefahr, um seine Brandmauer zu retten, Deutschland zu verspielen?

Stattdessen könnte er hinstehen und den Leuten reinen Wein einschenken: «Deutschland braucht bürgerliche Politik. Darum brauche ich die AfD. Ich garantiere und hafte persönlich, dass alles gut herauskommt. Helft mir. Gemeinsam schaffen wir das.» Genau so vielleicht, bis auf den letzten Satz. Womöglich getraut er sich ja noch, wenigstens hintenrum seine Brandmauern einzureissen. Freunde und Vertraute sollten ihn dabei unterstützen. Zum Wohle Deutschlands. «Valde miramur.»