Lima

Die Staatsanwälte des Southern District of New York dürften den Passagier mit freudiger Ungeduld erwartet haben, welcher, von Madrid herkommend, mit dem Flug Delta 127 am 19. Juli leicht verspätet auf dem Kennedy-Airport eintraf. Seit über einem Jahrzehnt ermittelten sie gegen den Mann: Hugo Armando Carvajal Barrios, 63, langjähriger Geheimdienstchef Venezuelas, mutmasslicher Chef des «Kartells der Sonnen», welches jährlich geschätzte 250 Tonnen Kokain aus Kolumbien in die USA verfrachtet. Die US-Regierung hatte zehn Millionen Dollar auf seinen Kopf ausgesetzt.

Geschnappt trotz Gesichtschirurgie

Im Zentrum der Anklage (indictment) stehen 5,6 Tonnen Kokain, die 2006 in einer DC-9 der venezolanischen Airline Sky in Mexiko zufällig infolge einer Panne vom Militär beschlagnahmt wurden. Dazu kommen ein Fang von 1,3 Tonnen Koks im Pariser Flughafen Charles de Gaulle aus dem Jahr 2013 sowie 800 Kilo im Diplomatengepäck der Neffen des Diktators Nicolás Maduro in New York (2016). Gemessen am Geschäftsvolumen des Sonnen-Kartells mögen diese Mengen bescheiden anmuten. Doch sie vermitteln zumindest einen Eindruck von der Unverfrorenheit, mit der Venezuelas Führungsclique im internationalen Drogenhandel mitmischt. Denn eines steht fest: Ohne Befehl von ganz oben sind solche Transporte sehr schwer denkbar. Gefilmte Treffen jüngeren Datums zwischen der venezolanischen Führungsclique und kolumbianischen Farc-Terroristen weisen zudem darauf hin, dass das Geschäft bis heute weiterläuft.

Carvajal wurde erstmals 2014 in der niederländischen Enklave Aruba vor der venezolanischen Küste verhaftet. Das Maduro-Regime liess umgehend Kriegsschiffe vor der Küste der kleinen Karibikinsel aufkreuzen und sperrte den Luftraum. Die Niederländer gaben schnell nach und sprachen Carvajal diplomatische Immunität zu. Doch 2019 stellte sich der Mann freiwillig. Unter dem falschen Namen «José Mourinho» (der jedem Fussballfan bestens bekannt ist) war er in Spanien eingereist, um umpolitisches Asyl zu ersuchen. Carvajal machte geltend, vom Maduro-Regime verfolgt zu werden.

Im Zentrum der Anklage stehen 5,6 Tonnen Kokain, die 2006 in Mexiko beschlagnahmt wurden.Vier Jahre lang kämpfte Carvajal mit allen Mitteln gegen eine Auslieferung in die USA. Eine Verwicklung in den Drogenhandel weist er weit von sich. Im Zuge des Verfahrens tauchte er in Madrid während fast zweier Jahre unter, er wechselte seine Wohnungen ständig und unterzog sich einer Gesichtschirurgie. Doch die US-Fahnder machten ihn ausfindig und lieferten den Spaniern die Koordinaten, welche im Herbst 2021 zu seiner erneuten Verhaftung führten. Carvajal bot den spanischen Behörden brisante Informationen, um seine Auslieferung zu verhindern. Erfolglos.

Gut möglich, dass die spanische Justiz den Mann nun erst recht loswerden wollte. Carvajal reichte Unterlagen ein, welche darauf hinweisen, dass die Gründung der linkspopulistischen spanischen Partei Podemos nicht nur vom venezolanischen Regime mit Millionenbeträgen finanziert wurde (ebenso wie Cinque Stelle in Italien). Über die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA und Scheinfirmen soll das Maduro-Regime Führungskräfte von Podemos zudem direkt mit Hunderttausenden Euro gegenüber der sozialistischen Tropendiktatur günstig gestimmt haben. Die Ermittlungen gegen die Podemos-Partei, die mit den Sozialisten Spanien regiert, versandeten bald.

Carvajal erwähnte bei dieser Gelegenheit auch Zuwendungen in dreistelliger Millionenhöhe an fast alle lateinamerikanischen Linkspopulisten: Kirchner-Fernández in Argentinien, Lula in Brasilien, Gustavo Petro in Kolumbien, Evo Morales in Bolivien, Ollanta Humala und Pedro Castillo in Peru. Sie alle wurden ebenso heimlich wie grosszügig mit Petro- und Koka-Dollars aus Caracas gedopt.

Das ist zwar ein offenes Geheimnis. Bereits der Odebrecht-Skandal brachte eine ganze Reihe von korrupten Dreiecksgeschäften unter einigen der erwähnten Linksregierungen zutage. Doch über welche Kanäle diese Gelder flossen, wurde nie sauber geklärt. Und wenn einer den Schlüssel zu diesem Tresor hat, dann Carvajal – der langjährige Geheimdienstchef und Vertrauensmann des venezolanischen Diktators Hugo Chávez.

Der «bolivarianische Traum» war stets das erklärte Ziel von Chávez: ganz Südamerika vereint unter einer Flagge, eine sozialistische Volksrepublik selbstverständlich, mit Comandante Hugo an der Spitze. Sowohl Chávez wie auch sein Nachfolger Nicolás Maduro posierten mehrmals ungeniert mit Terroristen aus Kolumbien vor den Kameras. 2008 beschlagnahmte die kolumbianische Armee mehrere Laptops der Führungsspitze der Narco-Guerilla Farc. Dort fand sich eine Fülle von Beweisen für die enge Allianz zwischen dem Chávez-Regime, der Kokainmafia und den Farc-Terroristen (der Schreibende berichtete in der Weltwoche damals ausführlich und aus erster Hand über diese Funde).

Nach einem kurzen Boom in den nuller Jahren mündete der venezolanische «socialismo del siglo XXI» in einen ökonomischen und sozialen Albtraum. Über sieben Millionen Venezolaner flüchteten gemäss Uno-Berichten ins Ausland; das Land mit den weltweit grössten Erdölvorräten ist nicht einmal in der Lage, seine Bevölkerung mit dem Allernötigsten zu versorgen; über ein Drittel der 28 Millionen Einwohner Venezuelas ist chronisch unterernährt und hat keinen Zugang zur Basismedizin. Die Petro-Dollars für die sozialistischen Brüder dürften mittlerweile versiegt sein. Geblieben ist das florierende Geschäft mit Kokain, Waffen, Gold und Diamanten aus illegalem Raubbau. Das Maduro-Regime in Caracas spielt dabei eine zentrale Rolle als Drehscheibe.

Nach einem kurzen Boom mündete der venezolanische «socialismo» in einen sozialen Albtraum.Carvajal, der es bis zum Generalmajor im venezolanischen Heer brachte, war ein Schüler von Chávez an der Militärakademie. Er gehörte zu den rebellischen Offizieren, die unter Chávez’ Führung 1992 einen ersten (gescheiterten) Staatsstreich lancierten. Zu dieser verschworenen Gruppe gehörte auch Diosdado Cabello, der bis heute eine Spitzenposition im venezolanischen Regime innehat. Gemäss der New Yorker Anklage beschloss diese Gruppe bereits vor 1999, als Chávez die Präsidentschaft von Venezuela antrat, die USA mit Kokain zu überschwemmen. Das Ziel: Waffen für linke Guerillas, die Schwächung des imperialistischen Erzfeindes – und persönliche Bereicherung.

Gemäss Insight Crime geht die Gründung des Kartells der Sonnen auf das Jahr 1993 zurück. Die «Sonnen» stehen für die Rangabzeichen in der venezolanischen Armee. Die Offiziere waren stets darum besorgt, dass in Venezuela selber keine Drogen produziert wurden. Das Land sollte bloss als Hub für den Schmuggel, die Geldwäsche und den Handel sowie als Rückzugsgebiet für die Narco-Guerillas aus dem benachbarten Kolumbien dienen. Bereits 2004 warf Chávez die Fahnder der US-Drogenbehörde DEA aus dem Land. Spätestens von diesem Zeitpunkt an war Venezuela eine Art rechtsfreier Raum, in dem die Narco-Generäle nach Gusto schalteten und walteten.

Chávez’ paranoide Züge

Eine besondere Rolle im Sonnen-Kartell ordnen die US-Fahnder Tareck El Aissami zu, auch er ein Top-Kader des Regimes. Sein Vater, ein Druse aus dem Libanon, verfügte über eine enge (familiäre) Beziehung zu Saddams Regime im Irak. El Aissami wurde in Venezuela geboren. Auch er schlug zuerst eine militärische Karriere ein, flog allerdings wegen eines Diebstahls von der Militärakademie, danach studierte er Kriminalistik. Als Student engagierte sich El Aissami für die Palästinenser. Ihm wird eine enge Verbindung zur Hisbollah sowie zum iranischen Regime nachgesagt, welches wiederum zu den treuesten Verbündeten der venezolanischen Diktatur zählt.

Theoretisch waren El Aissami als zeitweiliger Justizminister und Carvajal als Geheimdienstchef mit dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen betraut. Tatsächlich dürften sie, so zumindest die US-Anklage, ihre privilegierte Position missbraucht haben, um das Verbrechen nach ihrem Gusto zu organisieren. Carvajal war darüber hinaus der wichtigste Vertrauensmann des Caudillos Chávez, welcher nach einem Putschversuch (2004) zusehends paranoide Züge entwickelte. Ohne das Gütesiegel von Carvajals Geheimdienst wurde keine Schlüsselposition besetzt, ohne seinen Segen niemand befördert.

Bis zu Chávez’ Tod war Carvajal der vielleicht mächtigste Mann Venezuelas. Der Geheimdienstchef kannte die Schwächen und Sünden von allen, konnte fast jeden erpressen. Als Maduro – und nicht der von vielen favorisierte Cabello – 2011 in Chávez’ Fussstapfen trat, wurde Carvajal in den Ruhestand versetzt. Maduro, ein ehemaliger Buschauffeur und Gewerkschafter, traute den eigenen Militärs nie. So ersetzte er sämtliche Schlüsselpositionen im Repressionsapparat durch Kubaner, die ihr Handwerk im Geist des sowjetischen KGB gelernt hatten. Für Spezialaufträge liess Maduro Wagner-Truppen aus Russland einfliegen. Die eigenen Offiziere hielt er bei Laune, indem er ihnen das Drogen- und Waffengeschäft überliess. Zum offenen Bruch kam es erst 2019, als sich Carvajal auf die Seite des Oppositionsführers Juan Guaidó schlug.

Carvajal erwartet in den USA eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Terrorismus, Waffen- und Drogenhandels. Seine in Spanien offenbarte Redseligkeit deutet indes darauf hin, dass er sich der US-Justiz als Informant und Kronzeuge andienen wird. Aus lateinamerikanischer Sicht wäre das eine gute Wendung. Namentlich in den Andenländern – Kolumbien, Peru, Ecuador und Bolivien – haben sich die von Venezuela geförderten Drogen- und Raubbau-Mafias im Verbund mit dem linken Terror längst wie metastasierende Krebsgeschwüre in den Staat und die Institutionen eingefressen. Sie sind heute die grösste Bedrohung für die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in Lateinamerika.