Dieser Bericht beruht weder auf Geheimdienstinformationen noch auf anonymen Quellen, er ist schlicht das Ergebnis der Auswertung öffentlich zugänglicher Dokumente. Diese Feststellung steht hier am Anfang, denn im Bemühen um Aufklärung des Sprengstoffanschlags auf die Nord-Stream-Pipelines stammen bisher die allermeisten Informationen aus Quellen, die ein eigenes Interesse haben und deswegen nicht namentlich genannt werden wollen.

Es geht in diesem Bericht nicht nur darum, was wer auf dem Meeresgrund verübt hat – das ist nach wie vor unklar. Die Frage lautet auch: Was wusste der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz darüber? Falls er eingeweiht gewesen ist, wäre dies ein Politikum ersten Ranges: Ein deutscher Kanzler nimmt hin, dass ein Energieversorgungssystem zerstört wird, in das einheimische Firmen Milliarden investiert haben und das für die eigene Bevölkerung und die Unternehmen im Land entscheidend ist. Was also weiss Olaf Scholz?

Die Aktenlage sieht so aus: Im September 2021 hat Deutschland gewählt, und es formiert sich in Berlin eine Ampel-Koalition. Der scheidende Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) leitet am 21. Oktober eine «Versorgungssicherheitsanalyse» an die Bundesnetzagentur weiter, die für die Energieversorgung in Deutschland zuständig ist. Der Bericht ist mit dem designierten Kanzler Olaf Scholz, damals noch Vizekanzler, abgestimmt.

In dem Gutachten wird Nord Stream 2 als strategisches Projekt des Kremls und als Beitrag für die «europäische Versorgungssicherheit» gelobt. Gemäss der Analyse gefährdet die Erteilung einer Zertifizierung die Sicherheit der Gasversorgung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union nicht. Der künftige Kanzler lässt die Analyse passieren, die ein weiterer Baustein für die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 sein soll. Klar wird: Scholz war zu diesem Zeitpunkt Befürworter des Projekts – so wie viele seiner SPD-Parteifreunde.

Vor allem im nördlichen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, wo die Nord-Stream-Röhren 1 und 2 enden, unternimmt die dortige SPD-Landesregierung unter Ministerpräsidentin Manuela Schwesig alles dafür, das Projekt umzusetzen. Weil die Amerikaner mit Sanktionen gegen deutsche Firmen drohen, die beim Pipeline-Bau helfen, gründet das Land eine «Klima- und Umweltschutzstiftung». Sie hat einen wirtschaftlichen Zweig, der mit rund 200 Millionen Euro von der russischen Gazprom unterstützt wird.

Von dem Geld werden Aufträge zur Fertigstellung der Pipeline bezahlt und mit dieser Stiftungskonstruktion Sanktionen umgangen. Vorsitzender der Stiftung ist der SPD-Spitzenpolitiker Erwin Sellering, der als Ministerpräsident Vorgänger von Schwesig war. Es ist die alte, noch von Gerhard Schröder geprägte SPD, deren Generalsekretär Olaf Scholz einst war, die den Bau politisch flankiert. Sie ist offen gegenüber Russland und Machthaber Wladimir Putin.

Erst mit seiner Kanzlerwerdung am 8. Dezember beginnt bei Scholz ein Prozess des Umdenkens. Elf Tage später, am 19. Dezember 2021, geht er zum ersten Mal öffentlich auf Distanz zu dem Projekt – wenn auch nur ein bisschen: Er lässt an diesem Tag über seinen Sprecher ausrichten, bei Nord Stream 2 handle es sich «um ein privatwirtschaftliches Vorhaben, das weitgehend abgeschlossen ist». Nun sei von der Bundesnetzagentur nur noch die Einhaltung europäischer Vorgaben zu prüfen. «Das ist ein Verwaltungsverfahren, das jetzt nach Recht und Gesetz abgeschlossen wird, und es hat keine politische Dimension.» Als Kanzler weiss er mehr: Es gibt kein deutsches Wirtschaftsprojekt zu dieser Zeit, das so viel politische Sprengkraft besitzt wie Nord Stream 2.

Am 7. Februar 2022 erleben deutsche und amerikanische Zuschauer eine Schlüsselszene im Ringen um Nord Stream. Bewusst wird das den allermeisten aber erst einige Monate später. Scholz ist zum Antrittsbesuch zu US-Präsident Joe Biden geflogen. Nach ihren Gesprächen stehen beide auf einer gemeinsamen Pressekonferenz im Weissen Haus Journalisten Rede und Antwort. Biden wird gefragt, wie es mit Nord Stream weitergehe, falls Russland in die Ukraine einmarschiere. Der Präsident antwortet wörtlich: «Wenn Russland zum Beispiel mit Panzern und Truppen die Grenze zur Ukraine überquert, wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben.» Auf die Zusatzfrage: «Wie genau meinen Sie das?», das Projekt stehe schliesslich unter der Kontrolle Deutschlands, fügt Biden hinzu: «Ich verspreche Ihnen: Das werden wir schaffen.» Scholz hört zu und ergänzt dann: «Wir stehen da zusammen. Wir sind hier absolut einer Meinung. Wir unternehmen die gleichen Schritte. Wir werden eine harte Reaktion gegenüber Russland fahren.»

Zwei Tage vor dem Angriff der russischen Truppen, am 22. Februar, als sich der Krieg bereits abzeichnet, erklärt Scholz, er habe das Bundeswirtschaftsministerium gebeten, die nötigen verwaltungsrechtlichen Schritte zu unternehmen und eine Zertifizierung der Pipeline zu verhindern. Gemeint ist damit, dass die Versorgungssicherheitsanalyse, die Scholz zunächst durchgewinkt hatte, zurückgezogen werden soll. Damit fehlt eine Grundlage für die Zertifizierung. «Und ohne diese Zertifizierung kann Nord Stream 2 ja nicht in Betrieb gehen», erklärt der Kanzler.

Die bereits mit Gas gefüllten Röhren von Nord Stream 2 liegen damit unbenutzt auf dem Meeresgrund. Der Gasfluss durch Nord Stream 1 stockt immer mehr, mal sind es Wartungsarbeiten, mal fehlen angeblich Ersatzteile. Die russische Seite pokert, Putin nutzt sein Gas, das er mal liefert und dann wieder nicht, als Waffe gegen die EU im Krieg.

Nachdem bereits seit dem Sommer gar kein Gas mehr durch Nord Stream geflossen ist, detonieren am 26. September in der Nacht von Sonntag auf Montag und dann im Laufe des Vormittags drei der insgesamt vier Pipeline-Stränge von Nord Stream 1 und 2. Olaf Scholz meldet sich am Montagmorgen mit der Diagnose «Corona mit leichten Symptomen» für eine Woche vom politischen Tagesgeschäft ab. Er verstummt öffentlich.

Ermittler aus fast allen Ostsee-Anrainerstaaten begeben sich auf Spurensuche. Die US-Regierung hingegen lehnt eigene Ermittlungen ab; sie vertritt die Auffassung, dass sie nicht für die Aufklärung von Ereignissen zuständig ist, die sich nicht auf US-Territorium ereignen. Ein deutsches Polizeiboot kreuzt über dem Tatort, der in gut siebzig Metern Tiefe auf dem Meeresgrund liegt. Den deutschen Tauchern gelingt es nicht hinabzukommen, sie untersuchen die gesprengten Röhren mit einer Unterwasserdrohne. Die Ergebnisse werden nicht veröffentlicht.

Als die Fraktion der AfD am 4. November im Deutschen Bundestag nach Erkenntnissen zu den Urhebern des Anschlags fragt, wird sie genauso wie die Linken-Abgeordnete Sahra Wagenknecht, die das vorher schon in einem Brief ans Justizministerium gemacht hatte, im Unklaren gelassen. Das Ministerium verweist darauf, dass das Informationsinteresse des Parlaments «hinter dem berechtigten Geheimhaltungsinteresse zum Schutz der laufenden Ermittlungen» zurücktreten müsse. Eine Auskunft «würde konkret weitergehende Ermittlungsmassnahmen erschweren oder gar vereiteln».

Die AfD erhält auf sechzehn ihrer detaillierten Fragen überhaupt keine Antwort. Etwa auf die Frage, ob der russische Energiekonzern Gazprom als Hauptgeschädigter an den Untersuchungen beteiligt ist und welche deutschen Ermittlungsbehörden eingeschaltet seien. Auch auf die Frage, ob der vierte Strang der Pipeline noch intakt sei, kommen nur vage Mutmassungen.

Während Experten glauben, dass er noch funktioniert, heisst es von der Bundesregierung, dass er eventuell in Mitleidenschaft gezogen sein könnte. Keine Auskunft kommt auch von den betroffenen deutschen Konzernen Wintershall Dea und Eon. Sie haben sich am Bau beteiligt und müssen jetzt Milliarden abschreiben. Aus Aktionärssicht müssten sie alles tun, um Schadenersatz zu erhalten. Doch sie schweigen bis heute.

Am 3. März 2023 reist Olaf Scholz erneut zu Joe Biden nach Washington. Nachdem es um den Nord-Stream-Anschlag öffentlich eine Zeitlang ruhig geworden war, entfachte ein Bericht des US-Investigativjournalisten Seymour Hersh das Interesse wieder. Hersh berichtet detailliert, allerdings aus anonymer Quelle, darüber, dass Amerikaner mit Hilfe von Norwegern den Anschlag verübt hätten. Die Darstellung wird umgehend vom Weissen Haus, von den US-Geheimdiensten und der Regierung in Oslo dementiert, was allerdings nicht dazu führt, dass der Bericht unbeachtet bleibt.

Scholz fliegt, was ungewöhnlich für ihn ist, ohne Pressebegleitung nach Washington. Als er zurückkehrt, bleibt der Kanzler mit Blick auf die Diskussionen, die er mit Biden geführt hat, vage. Es sei um Fragen zum Krieg in der Ukraine, zu Waffenlieferungen, Bildung, Fachkräftemangel, Rente und medizinischer Versorgung in ländlicher Region gegangen, sagt er. Zwei Tage später erscheint die New York Times mit einer Geschichte, wonach Spuren der möglichen Attentäter in die Ukraine weisen. In Deutschland kommen ARD und Die Zeit zeitgleich zu gleichen Ergebnissen und berufen sich dabei auf Erkenntnisse deutscher Ermittler.

Danach soll von einer Firma mit Sitz in Polen, die zwei Ukrainern gehört, eine Jacht angemietet worden sein. Die Crew habe professionell gefälschte Reisepässe vorgelegt und die Segeljacht «Andromeda» dem Eigentümer später in ungereinigtem Zustand zurückgegeben. Auf dem Tisch in der Kabine hätten Ermittler Spuren von Sprengstoff nachweisen können. Scholz’ Parteifreund, Verteidigungsminister Boris Pistorius, warnt jedoch davor, diese Ergebnisse für bare Münze zu nehmen. Sie könnten auch eine bewusste falsche Spur sein. Mehrere Medien berichten von russischen Schiffen, die zum Zeitpunkt des Anschlags in Tatortnähe das Meer durchkreuzt und dabei ihre Identifikationssender ausgeschaltet hätten. Das Durcheinander ist perfekt.

Die AfD verlangt einen Untersuchungsausschuss zum Nord-Stream-Anschlag. Sie benötigt dafür ein Viertel der Stimmen der Abgeordneten im Bundestag und braucht also die Unionsparteien. Die haben es sich jedoch zum Prinzip gemacht, nicht mit der AfD gemeinsam zu stimmen. Scholz’ Chancen, unangenehmen Fragen zu entgehen, bleiben damit intakt.

Am 25. Mai lässt der Generalbundesanwalt Peter Frank die Wohnung einer möglichen Zeugin in Frankfurt (Oder) durchsuchen. Bei Frank laufen alle Ermittlungsstränge in Deutschland zusammen. Die Zeugin soll die ehemalige Lebensgefährtin eines ukrainischen Tatverdächtigen sein, gegen den konkret ermittelt wird. Ihrem Kind, dessen Vater der Tatverdächtige ist, soll eine DNA-Probe entnommen worden sein, die mit den Spuren von der Segeljacht verglichen werden soll. Das Ergebnis ist bislang unbekannt. Frank schweigt. Auch dänische Behörden ermitteln, sind aber genauso wortkarg. Im Juli teilen sie mit: «Die Untersuchungen sind noch nicht beendet, und es ist auch noch nicht abzusehen, wann dies der Fall sein könnte.»

Am 6. Juni kommt die Washington Post mit neuen Erkenntnissen, wonach der Auslandsgeheimdienst CIA bereits drei Monate vor dem Anschlag von dem Plan erfahren haben will und die Ukraine als Urheber genannt bekommen habe. Die USA hätten daraufhin Deutschland informiert. Scholz war also informiert. Passiert ist aber offenbar nichts. Jedenfalls gab es keine erfolgreichen Bemühungen, den Anschlag zu verhindern. Warum? Die deutschen Ermittler schweigen.

Etwas auskunftsfreudiger als Deutsche und Dänen ist der schwedische Staatsanwalt Mats Ljungqvist, der ebenfalls ermittelt. Anfang April hatte er erklärt: Seine Ermittler hätten die Art des benutzten Sprengstoffs bestimmen und dadurch «eine sehr grosse Anzahl von Akteuren» ausschliessen können. Man könne nicht ausschliessen, dass eine unabhängige Gruppe hinter dem Anschlag stecke, doch sei dies unwahrscheinlich. Die letzte Meldung von Ljungqvist ist wenige Tage alt. Die schwedische Staatsanwaltschaft wolle den Fall möglichst bis Jahresende abschliessen, sagt er. Das bedeute, «den Fall entweder abzuschliessen oder Anklage gegen jemanden zu erheben».

Olaf Scholz bleibt beim Thema schmallippig. Zum Jahrestag des Anschlags lässt er seinen Regierungssprecher zum Stand der Ermittlungen mitteilen: «Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, dass sie auch zu Ergebnissen führen sollen und dass man wissen will, wer die Urheber dieses Sabotageaktes des mutmasslichen Sabotageaktes gewesen sind.» Zuständig und auskunftsfähig sei aber allein der Generalbundesanwalt. Klar ist aber auch: Der wird sich mit Scholz abstimmen, bevor er etwas sagt.