Es ist schon ein seltsames Gefühl, für das gleiche Magazin zu schreiben wie Wladimir Putin. Aber ich halte es für richtig, dass die Weltwoche kürzlich eine Putin-Rede abgedruckt hat, die sich an sein Volk richtete. Ich habe Geschichte studiert, dabei lernt man: Nichts geht über Originaltexte, wenn du dir ein Urteil bilden willst.

Jeder sollte diese Rede lesen. Sie strotzt vor Verlogenheit und vor Hass auf den Westen.

Putin schreibt zum Beispiel: «Im Grunde sind die westlichen Eliten die alten Kolonisatoren geblieben.» Sie wollten Russland zur Kolonie machen. Wir alle wissen, dass die westlichen Eliten von einer halbreligiösen woken Ideologie besessen sind, die den Kolonialismus zur Erbsünde des weissen Menschen erklärt. Wir wissen auch, dass Russland und China die letzten Kolonialmächte sind, mit Kolonialkriegen in Tibet, Tschetschenien und jetzt in der Ukraine.

Putin, der selber Teile der Republik Moldau und Teile Georgiens besetzt hält, redet seinen Russen allen Ernstes ein, «Deutschland, Japan, die Republik Korea und andere Länder» seien von den USA «besetzt». Er wirft dem Westen auch «Satanismus» vor und beruft sich bei seinem Krieg auf Jesus – ein Gotteskrieger, wie die Taliban.

Demokratische Illusionen

Worüber freue ich mich zurzeit? Ich freue mich darüber, dass die Ukraine den russischen Eroberern standhält, so, wie es einst den Finnen gegen Stalin gelungen ist. Und ich hoffe, dass der Westen, auch Deutschland, ihr so lange mit Waffen hilft, bis Russland, wie damals unter Stalin, seine Pläne ändert, unter welcher Führung auch immer.

Jeder sollte Putins Rede lesen. Sie strotzt vor Verlogenheit und vor Hass auf den Westen.

Nein, ich glaube nicht, dass die Ukraine «gewinnen» kann. Sie kann aber ihr Selbstbestimmungsrecht verteidigen. Nein, ich glaube auch nicht, dass die Ukraine eine Musterdemokratie ist, was immer mit diesem Begriff gemeint sein mag. Und ich halte nicht Russland für den Inbegriff des Bösen und die USA für den Inbegriff des Guten in der neueren Geschichte. Auch die USA haben ihre weltpolitischen Interessen in Kriegen verteidigt, Regierungen gestützt und Lügen verbreitet.

Es gibt aber ein paar Unterschiede.

In Libyen und im Irak sind die USA gegen despotische Regime vorgegangen, nicht nur aus Liebe zur Demokratie, gewiss, aber doch auch mit ein paar demokratischen Illusionen. Die Amerikaner glaubten, dass diese Länder sich in etwas ähnlich Idyllisches verwandeln lassen wie Deutschland oder die Schweiz, das war ein Irrtum.

In der Ukraine hat man es mit einer demokratischen Regierung zu tun und einem Volk, das unter hohen Opfern um seine Freiheit kämpft, ein Volk, das gerne so ähnlich leben würde wie wir. Sollen wir es sterben lassen, damit wir es schön warm haben?

Die Ukraine erinnert mich an einen Ertrinkenden, der um sein Leben kämpft. Manche Texte in der Weltwoche zu diesem Thema klangen für mich wie der Kommentar eines Menschen, der am Rand des Wassers steht und sich weigert, einen Rettungsring zu werfen. Stattdessen ruft er: «Hast du nicht das Schild am Ufer gelesen? Baden verboten!»

Siege und Niederlagen

Der russische Krieg ist ein Eroberungskrieg, klassischer Imperialismus. Ich lese oft das Argument, die Ausdehnung der Nato gen Osten habe Russland provoziert und sei der eigentliche Auslöser dieses Krieges. In diesem Argument ist, unausgesprochen, ein Zugeständnis versteckt. Nämlich, dass sich ohne die Mitgliedschaft in der Nato die Länder Osteuropas bald wieder, wie zu Zeiten der Sowjetunion, unter der Knute Russlands befunden hätten. Polen, Tschechien und das Baltikum wären dann heute in der gleichen Lage wie Belarus. Der Ukraine-Krieg beweist, dass die Osteuropäer in ihrer Einschätzung Russlands richtig lagen, sie wussten, warum sie unbedingt in die Nato wollten.

Imperialisten lernen durch Siege und Niederlagen und durch sonst nichts. Die USA zum Beispiel wird dank ihrer Erfahrungen dort nicht so bald wieder im Nahen Osten Krieg führen. Russlands Sieg in der Ukraine aber wäre nur ein Schritt auf Putins Weg zu seinem ziemlich offen erklärten Ziel, dem Sieg über den dekadenten, gottlosen Westen mit Hilfe der Dominanz über Europa. Was mich betrifft: Ich würde tatsächlich lieber in einer Kolonie der USA leben als in einem Europa, wo jemand wie Putin die Spielregeln bestimmt.

Der Frieden durch Unterwerfung, den die Pazifisten und die Putin-Anwälte sich vorstellen, wäre also lediglich ein kurzer. Verhandlungen und ein echter Frieden sind erst dann möglich, wenn Russland zu Zugeständnissen bereit ist, vor allem zu dem Zugeständnis, dass die Zeit imperialer Eroberungen vorbei ist. Deshalb ist jeder Erfolg der Ukraine ein Lichtblick.

Die 3 Top-Kommentare zu "Erfolg der Ukraine: Worüber freue ich mich zurzeit? Ich freue mich darüber, dass die Ukraine den russischen Eroberern standhält, so, wie es einst den Finnen gegen Stalin gelungen ist"
  • nasowas

    Herr Martenstein, Sie verkennen die Situation vollkommen. Nicht die Ukraine hält Stand. Es sind Nato und EU mit einigen Anhängseln - noch. Sie haben also Geschichte studiert. Warum nicht allumfassend, sondern nur das, was zur Klitterung notwendig ist? Es gibt sowieso schon zu viele Historiker, die die Geschichte nutzbringend partiell darstellen und mit Absicht verfälschen. Sie haben sich selbst mit diesem Artikel einen Bäredienst erwiesen. Arbeiten Sie was anderes.

  • Mausolina

    Herr Martenstein ich habe Sie für einen klugen Menschen gehalten. Das ist jetzt auch Geschichte. Sie sagen, Sie lesen gerne PolitikerReden. Ich habe Reden Putins gelesen und ich kann darin wesentlich mehr Kluges und eine Menge sympathischer Diplomatie gegenüber dem Westen entdecken, als im Gestammel eines Joe Biden, der Überheblichkeit eines Macron oder dem nichtssagenden Gekichere eines Scholz. Leben Sie in ihrer USAKolonie, ich bevorzuge eine deutsch-russische Wirtschaftsunion.

  • Betrachtung

    Wenn in meinem Dorf das Gespräch auf das Thema des Krieges kommt, dann ist sehr schnell die die Rede davon, wie es den Angehörigen der gefallenen Soldaten auf beiden Seiten ergehen mag. Bei vielen Journalisten und Politikern ist das überhaupt kein Thema.