Um sich einer Sache absolut sicher zu sein,
muss man entweder alles darüber wissen oder nichts.
Henry Kissinger
Wien
Die Macht setzt das Recht, aber unsere Welt rechtfertigt sich dadurch, dass sie versucht, das Recht über die Macht zu stellen. Kein Machthaber soll über den Gesetzen stehen. Triumphiert die Macht über das Recht, reden wir von Despotie, von Diktatur, von Unrecht.
Darum kann es uns nicht egal sein, wenn Staaten wie Israel das Recht brechen, auch wenn sie es aus guten, aus besten Gründen zu tun glauben, in einem Akt der Selbstverteidigung gegen terroristische Angriffe, die berechtigte Abscheu, namenloses Entsetzen und gerechten Zorn entfachen.
Was aber nützt es, dauernd die Unmoral der «Terroristen» zu verurteilen? Es nützt nichts. Zu fragen ist, was Menschen in diesen Hass treibt, was aus ihnen Bomben macht, gnadenlose Killer. Unrecht, Verzweiflung stürzt Menschen in den Hass. Mit Krieg und Gegenterror bannt man keinen Hass.
Man produziert ihn.
Gerecht ist, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Das Völkerrecht zum Beispiel verbietet die Tötung von Zivilisten im Krieg. Dieses Verbot gilt für Russland, für China, für die Vereinigten Staaten, es gilt auch für die Ukraine und für Israel.
Wenden wir in allen genannten Fällen gleiches Recht an? Mitnichten! Die Anklage gegen Präsident Putin durch das Strafgericht von Den Haag war ein Weltrekord der internationalen Justiz. Das gleiche Haager Gericht führt seit 2019 eine offene Ermittlung von Kriegsverbrechen in Palästina.
Zweierlei Mass? Zweierlei Mass!
Politik erfordert einen kühlen Kopf. Besonders Aussenpolitik ist nichts für schwache Nerven. Realismus statt Moralismus: So müsste die Devise lauten. Unsere Zeit, unsere Politik aber krankt an einem Mangel an Realismus. Das rächt sich jetzt.
Die Politik des Westens gegenüber Russland ist gescheitert. Das Debakel kündigte sich an. Die Sanktionen haben Russland reicher und Europa ärmer gemacht. Präsident Selenskyj verliert den Krieg. Statt in Moskau droht eher in Kiew ein Wechsel der Regierung.
Zum Glück ist die Wirklichkeit stärker als jede Ideologie. Europa verarmt ohne russische Rohstoffe. Doch russische Rohstoffe kommen trotzdem nach Europa. Im Sanktionskäfig klaffen Löcher. Via Indien, die Türkei oder die Ukraine fliessen Gas und Öl, allerdings viel teurer als vorher.
Muss man Israel vor sich selber schützen? Die Israelis sehen sich durch den Terror der Hamas in ihrer Existenz bedroht. Sie reden von Zivilisationsbruch und schlagen gegen den Zivilisationsbrecher mit aller Härte zurück. Doch die Verbrechen des einen rechtfertigen nie die Verbrechen eines anderen.
Wenigstens verlieren die Araber nicht die Nerven. Eben haben die Saudis einen Deal mit den Iranern abgemacht. Teheran bekommt Milliarden. Im Gegenzug versprechen die Mullahs, den Krieg in Gaza nicht zum Anlass einer Eskalation zu nehmen. Es ist die beste Nachricht aus letzter Zeit.
Henry Kissinger ist gestorben. Er war einer der letzten Realisten der internationalen Politik, ein Methusalem des Weltgeschehens, Jahrhundertzeuge, aufgewachsen in Deutschland, durch die Nazis in die USA vertrieben, Kriegsteilnehmer, Akademiker, Diplomat, Friedensnobelpreisträger.
Den brillanten Gelehrten prägte stets die Suche nach dem Gleichgewicht, nach Stabilität. Das hat ihm den Ruf des Zynismus eingetragen. Kissinger war kein Ideologe, das nahmen ihm die Ideologen übel. Er stürzte in Abgründe (Vietnam), aber er war ein Mann des Friedens. Kissinger fehlt bereits.
Immer warnte der Berater vieler Präsidenten vor dem Vormarsch der Amerikaner in Europa, vor der Nato-Osterweiterung. Kissinger plädierte für eine neutrale Ukraine, Brücke zwischen Ost und West. Er redete mit allen, auch mit Putin, den er als «grossrussischen Nationalisten» sah. Mit Respekt.
Was wird aus Deutschland ohne Kissinger? Schmidt, Kohl, Merkel hörten noch auf ihn. Die woken Grünschnäbel, die jetzt in Berlin das Sagen haben, sind das Gegenteil dieses abgeklärten, manchmal weisen Staatsmanns. Ihre Unbedarftheit ist eine Gefahr nicht nur für die Bundesrepublik.
Deutschland hat eine Verantwortung für Israel. Ohne den Holocaust gäbe es im Nahen Osten keinen Judenstaat. Umgekehrt gilt, wenn schon, die deutsche Verantwortung aber auch für Palästina. Ohne die Verbrechen der Deutschen hätten die Palästinenser ihre Heimat nicht an Israel verloren.
Kissinger war ein Mann des 19. Jahrhunderts. Er hatte ein tragisches Geschichtsbild. Die Lektüre von Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes» soll ihn stark geprägt haben. Er hatte die Fähigkeit, die Welt auch durch die Augen seiner Gegner zu betrachten. Seine Bücher sollten Pflichtlektüre sein.
Ich gebe die Hoffnung nicht auf, das Gemetzel der Gegenwart sei am Ende eine heilsame Therapie. Wie in einem riesigen Spiegel erscheinen all die Irrtümer und Verblendungen, denen wir uns in den letzten Jahren so wirklichkeitsvergessen hingegeben haben.
Menschen sind beseelte Maschinen der Anpassung, Weltmeister des Irrtums, aber eben auch lernfähig und getrieben von einem unzerstörbaren Drang zu überleben. Deshalb wird es auch diesmal gut herauskommen. Wie viel Unheil aber braucht es bis zur Rettung?