Oberflächlich, schlampig, falsch: Die Sanktionen, die die EU nach Beginn des Ukraine-Krieges gegen russische Privatpersonen verhängte, waren oft mit der heissen Nadel gestrickt und stützen sich auf Beweise, die einer Überprüfung nicht standhalten. Dies ergab eine Recherche des Online-Magazins Politico. Einige russische Oligarchen haben daher bereits erfolgreich für eine Streichung ihrer Namen von der Sanktionsliste geklagt. Andere könnten bald folgen. Bislang sind 95 Klagen anhängig.

Die Publikation erhielt Einblick in fünf sogenannte vertrauliche Beweispakete, mit denen der EU-Rat – die Gesamtheit der 27 Mitgliedsstaaten – die Strafmassnahmen zu untermauern suchte. Dabei seien die Hürden für die aufgenommenen Dokumente oft «schockierend niedrig» gewesen. So fänden sich darunter nicht nur Artikel aus seriösen westlichen Publikationen wie der Financial Times und der Nachrichtenagentur Reuters, sondern auch dubiose russische und ukrainische Quellen, die mit künstlicher Intelligenz übersetzt wurden und deren Herkunft im Dunkeln liegt.

So sei in einem Fall ein Artikel aus einem russischen Lifestyle-Magazin zitiert worden, dem russische Propaganda vorgeworfen wird, das jedoch hauptsächlich Kochrezepte veröffentlicht. Sehr häufig seien lediglich Wikipedia-Artikel verlinkt worden, oder es fanden sich Anzeigen für eine Dating-App. Das belastende Material gegen den Geschäftsmann Grigori Bereskin enthielt einen von einer KI namens Carmen verfassten Artikel sowie Hinweise auf eine Website («Russian Crimes»), deren Autoren es nicht gibt. Gleichsam vervollständigt würden diese unzuverlässigen Kompendien durch Tippfehler und Auslassungen.

Der ehemalige Chef des russischen Düngemittelkonzerns Acron, Wjatscheslaw Kantor, wurde sogar antisemitisch beleidigt. Das Papier, das ihn inkriminierte, gab seine Nationalität mit «jüdisch/russisch» an – wie in alten Sowjetpässen oder Ausweisen der Nazizeit. Das Kabinett von EU-Ratschef Charles Michel entschuldigte sich bei dem 70-Jährigen. Dessen Klage gegen die Sanktionen wurde jedoch nicht stattgegeben. Stattdessen erstellte der Rat neues Beweismaterial gegen Kantor, der nach der Aufnahme auf die Sanktionsliste sein Amt als Präsident des europäisch-jüdischen Kongresses aufgeben musste.

Die Leichtfertigkeit, mit der die EU Strafmassnahmen verhängt, ist umso erschreckender, als diese Sanktionen tief in das Leben der Betroffenen eingreifen. «Das ist ein bürgerlicher Tod in dem Sinn, dass diese Personen fast vollständig vom wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen werden», zitiert Politico den deutschen Anwalt Viktor Winkler, einen Spezialisten für Sanktionsrecht. «Wir haben dieses Sanktionsinstrument geschaffen, das eine sehr, sehr, sehr scharfe Waffe ist. Die Art und Weise, wie die EU dieses Instrument verwendet, ist nicht mehr akzeptabel.»

Jeder EU-Staat hat das Recht, Personen für Sanktionen vorzuschlagen und dem EU-Aussenbeauftragten Beweismaterial zu übergeben. Dessen Büro leitet die Dokumente dann dem Rat weiter, ohne allerdings eine Überprüfung vorzunehmen. Dann stimmt der Rat ab. Eine Streichung einzelner Namen von der Liste, die bisher nur Ungarn in einigen Fällen versuchte, blockieren nach Angaben von Politico vor allem Estland, Litauen und Polen. Daher sei bislang nur eine Handvoll von Personen gestrichen worden – die meisten, weil sie gestorben sind.