Dieser Text («Prigozhin’s Folly») erschien erstmals auf dem Substack-Blog von Seymour Hersh: Wir publizieren ihn im Wortlaut und übersetzt. Die Redaktion.

Die Regierung Biden hatte am vergangenen Wochenende ein paar glorreiche Tage. Die anhaltende Katastrophe in der Ukraine geriet aus den Schlagzeilen und wurde durch den «Aufstand» von Jewgeni Prigoschin, dem Chef der Söldnergruppe Wagner, ersetzt, wie es in einer Schlagzeile der New York Times hiess.

Der Schwerpunkt verlagerte sich von der gescheiterten Gegenoffensive der Ukraine auf die Bedrohung, die Prigoschin für Putins Herrschaft darstellte. Eine Schlagzeile in der Times lautete: «Revolte wirft brennende Frage auf: Könnte Putin die Macht verlieren?» Der Kolumnist der Washington Post, David Ignatius, gab diese Einschätzung ab: «Putin blickte am Samstag in den Abgrund – und zuckte zurück.»

Aussenminister Antony Blinken – der für Kriegsfragen zuständige Pressesprecher der Regierung, der vor Wochen stolz von seiner Verpflichtung sprach, keinen Waffenstillstand in der Ukraine anzustreben – trat in der CBS-Sendung «Face the Nation» mit seiner eigenen Version der Realität auf: «Vor sechzehn Monaten glaubte man, die russischen Streitkräfte […] würden die Ukraine als unabhängiges Land von der Landkarte tilgen», sagte Blinken. «Jetzt mussten sie am Wochenende Moskau, Russlands Hauptstadt, gegen Söldner verteidigen, die Putin selbst geschaffen hat. […] Das war eine direkte Herausforderung für Putins Autorität. […] Das zeigt echte Risse.»

Blinken, der von seiner Interviewpartnerin Margaret Brennan nicht herausgefordert wurde, weil er wusste, dass dies nicht der Fall sein würde – warum wäre er sonst in der Sendung aufgetreten –, fuhr fort, dass der Sturz des verrückten Wagner-Führers ein Segen für die ukrainischen Streitkräfte sein würde, die allerdings während seines Auftritts weiter von russischen Truppen abgeschlachtet wurden. «Das eröffnet den Ukrainern noch mehr Möglichkeiten, vor Ort erfolgreich zu sein, als es Putin und seine Regierung insofern ablenkt, dass sie sich ums eigene Hinterland kümmern müssen, während sie die Gegenoffensive der Ukraine abwehren.»

Hat Blinken hier für Joe Biden gesprochen? Sollen wir das so verstehen, dass auch der Mann, der das Sagen hat, das glaubt?

Heute wissen wir, dass der Aufstand des chronisch labilen Prigoschin innerhalb eines Tages im Sande verlief, da er nach Weissrussland flüchtete, wo ihm keine Strafverfolgung drohte, und dass seine Söldnerarmee in die russische Armee integriert wurde. Es gab weder einen Marsch auf Moskau noch eine nennenswerte Bedrohung für Putins Herrschaft.

Habt Mitgefühl für die Washingtoner Kolumnisten und Korrespondenten für nationale Sicherheit, die sich offenbar stark auf offizielle Hintergrundgespräche mit Beamten des Weissen Hauses und des Aussenministeriums verlassen. Angesichts der veröffentlichten Ergebnisse solcher Briefings scheinen diese Beamten nicht in der Lage zu sein, die Realität der letzten Wochen oder das totale Desaster der Gegenoffensive des ukrainischen Militärs zu erkennen.

Im Folgenden möchte ich einen Blick auf die tatsächlichen Vorgänge werfen, die mir von einer sachkundigen Quelle in den amerikanischen Geheimdienstkreisen mitgeteilt wurden: «Ich dachte, ich könnte etwas Licht ins Dunkel bringen. Erstens und am wichtigsten ist, dass Putin jetzt in einer viel stärkeren Position ist. Wir haben bereits im Januar 2023 erkannt, dass ein Showdown zwischen den Generälen, die von Putin unterstützt werden, und Prigo (Prigoschin, d. Red.), der von antirussischen Extremisten unterstützt wird, unvermeidlich war. Es ist der uralte Konflikt zwischen den ‹speziellen› Kriegern und einer grossen, langsamen, schwerfälligen und fantasielosen regulären Armee. Die Armee gewinnt immer, weil sie über die peripheren Mittel verfügt, die einen Sieg, sei es offensiv oder defensiv, möglich machen. Der wichtigste Punkt: Sie kontrollieren die Logistik. Die special forces sehen sich selbst als die wichtigste Offensivkraft. Solange die Gesamtstrategie offensiv ist, toleriert die grosse Armee ihre Hybris und ihr öffentliches Brustklopfen, weil diese Spezialkräfte bereit sind, ein hohes Risiko einzugehen und einen hohen Preis zu zahlen. Eine erfolgreiche Offensive erfordert einen hohen Aufwand an Männern und Ausrüstung. Eine erfolgreiche Verteidigung hingegen erfordert einen sparsamen Umgang mit diesen Mitteln.»

«Wagner-Mitglieder waren die Speerspitze der ursprünglichen russischen Ukraine-Offensive. Sie waren die ‹kleinen grünen Männchen›. Als sich die Offensive zu einem umfassenden Angriff der regulären Armee ausweitete, unterstützten die Wagner-Mitglieder weiterhin, mussten sich aber in der darauf folgenden Phase der Instabilität und Neuausrichtung zurückhalten. Prigo, kein Mauerblümchen, ergriff die Initiative, um seine Streitkräfte zu verstärken und seinen Sektor zu stabilisieren.»

«Die reguläre Armee begrüsste die Hilfe. Prigo und Wagner standen im Rampenlicht und ernteten die Lorbeeren dafür, dass sie die verhassten Ukrainer gestoppt hatten, wie es bei Spezialeinheiten üblich ist. Die Presse stürzte sich auf sie. In der Zwischenzeit änderten die grosse Armee und Putin langsam ihre Strategie von der offensiven Eroberung des Grossteils der Ukraine zur Verteidigung dessen, was sie bereits hatten. Prigo weigerte sich, diese Änderung zu akzeptieren und setzte die Offensive gegen Bachmut fort. Hier liegt der Knackpunkt. Anstatt eine öffentliche Krise heraufzubeschwören und das Arschloch [Prigoschin, die Red.] vor ein Kriegsgericht zu stellen, hielt Moskau einfach die Ressourcen zurück und liess Prigo seine Personal- und Feuerkraftreserven aufbrauchen, was ihn zur Aufgabe verdammte. Schliesslich ist er, auch wenn er finanziell noch so gerissen ist, nur ein ehemaliger Hotdog-Brater, der weder politisch noch militärisch etwas geleistet hat.»

«Was wir nie erfahren haben, ist, dass Wagner vor drei Monaten von der Bachmut-Front abgezogen und zur Demobilisierung in eine verlassene Kaserne nördlich von Rostow am Don [im Süden Russlands, die Red.] geschickt wurde. Das schwere Gerät wurde grösstenteils umverteilt, die Truppe auf etwa 8000 Mann reduziert, von denen 2000 in Begleitung der örtlichen Polizei nach Rostow gingen.»

«Putin hat sich voll und ganz hinter die Armee gestellt, die es zugelassen hat, dass Prigo sich lächerlich gemacht hat und nun in der Versenkung verschwindet. Und das alles, ohne militärisch ins Schwitzen zu geraten oder Putin in eine politische Pattsituation mit den Fundamentalisten zu bringen, die glühende Verehrer Prigos waren. Ziemlich schlau.» Es besteht eine enorme Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Lage durch die Fachleute der amerikanischen Nachrichtendienste und dem, was das Weisse Haus und die gleichgültige Washingtoner Presse der Öffentlichkeit vermitteln, indem sie unkritisch die Aussagen von Blinken und seinen Falken-Kohorten wiedergeben.

Die aktuellen Statistiken über die Kampfhandlungen, die mir zugetragen wurden, deuten darauf hin, dass die Aussenpolitik der Regierung Biden in der Ukraine insgesamt gefährdet sein könnte. Sie werfen auch Fragen über die Beteiligung der Nato auf, die die ukrainischen Streitkräfte mit Ausbildung und Waffen für die derzeitige Gegenoffensive versorgt hat. Ich habe erfahren, dass das ukrainische Militär in den ersten zwei Wochen der Operation nur 44 Quadratkilometer des von der russischen Armee gehaltenen Gebiets erobert hat, einen Grossteil davon offenes Gelände. Im Gegensatz dazu kontrolliert Russland jetzt 40.000 Quadratmeilen ukrainischen Territoriums. Mir wurde gesagt, dass sich die ukrainischen Streitkräfte in den letzten zehn Tagen keinen nennenswerten Weg durch die russischen Verteidigungsanlagen gebahnt haben. Sie haben nur zwei weitere Quadratkilometer des von Russland besetzten Gebiets zurückerobert. Bei diesem Tempo, so sagte ein informierter Beamter scherzhaft, würde Selenskyjs Militär 117 Jahre brauchen, um das Land von der russischen Besatzung zu befreien.

Die Presse in Washington scheint in den letzten Tagen langsam das Ausmass der Katastrophe zu begreifen, aber es gibt keine öffentlichen Anzeichen dafür, dass Präsident Biden und seine ranghohen Berater im Weissen Haus und die Mitarbeiter des Aussenministeriums die Situation verstanden haben.

Putin hat nun die vollständige oder fast vollständige Kontrolle über die vier ukrainischen Oblaste Donezk, Cherson, Lugansk und Saporischschja, die er am 30. September 2022, sieben Monate nach Beginn des Krieges, öffentlich annektiert hat. Der nächste Schritt, vorausgesetzt, es geschieht kein Wunder auf dem Schlachtfeld, liegt in Putins Hand. Er könnte einfach stehen bleiben und abwarten, ob die militärische Realität vom Weissen Haus akzeptiert wird und ob ein Waffenstillstand angestrebt und formelle Gespräche über das Ende des Krieges aufgenommen werden. Im April nächsten Jahres finden in der Ukraine Präsidentschaftswahlen statt, und der russische Staatschef könnte sich zurückhalten und diese abwarten – wenn sie denn stattfinden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat erklärt, dass es keine Wahlen geben wird, solange das Land unter Kriegsrecht steht.

Bidens politische Probleme im Hinblick auf die (amerikanischen) Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr sind akut und offensichtlich. Am 20. Juni veröffentlichte die Washington Post einen Artikel, der sich auf eine Gallup-Umfrage stützte, unter der Überschrift «Biden sollte nicht so unbeliebt sein wie Trump – ist er aber». In dem Artikel, der die Umfrage von Perry Bacon Jr. begleitete, hiess es, Biden habe «fast universelle Unterstützung innerhalb seiner eigenen Partei, praktisch keine von der Oppositionspartei und schreckliche Zahlen bei den Unentschiedenen.» Wie frühere demokratische Präsidenten, schrieb Bacon, kämpfe Biden damit, «jüngere und weniger engagierte Wähler anzusprechen». Zu Bidens Unterstützung für den Ukraine-Krieg konnte Bacon nichts sagen, da in der Umfrage offenbar keine Fragen zur Aussenpolitik der Regierung gestellt wurden.

Die sich abzeichnende Katastrophe in der Ukraine und ihre politischen Auswirkungen sollten ein Weckruf für jene demokratischen Kongressmitglieder sein, die den Präsidenten unterstützen, aber nicht mit seiner Bereitschaft einverstanden sind, in der Ukraine viele Milliarden gutes Geld dem schlechten hinterherzuwerfen, in der Hoffnung auf ein Wunder, das nicht eintreten wird. Die Unterstützung der Demokraten für den Krieg ist ein weiteres Beispiel für die zunehmende Abkehr der Partei von der Arbeiterklasse. Es sind ihre Kinder, die in den Kriegen der jüngsten Vergangenheit gekämpft haben und möglicherweise in jedem künftigen Krieg kämpfen werden. Diese Wähler haben sich in zunehmender Zahl abgewandt, da sich die Demokraten den intellektuellen und wohlhabenden Klassen annähern.

Wenn es irgendeinen Zweifel an der anhaltenden seismischen Verschiebung in der gegenwärtigen Politik gibt, empfehle ich eine gute Dosis Thomas Frank, den gefeierten Autor des Bestsellers von 2004 «What's the Matter with Kansas? How Conservatives Won the Heart of America», ein Buch, das erklärt, warum sich die Wähler dieses Bundesstaates von der Demokratischen Partei abgewandt und gegen ihre wirtschaftlichen Interessen gestimmt haben.

Frank tat es 2016 erneut in seinem Buch «Listen, Liberal: Or, Whatever Happened to the Party of the People?» In einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe schilderte er, wie Hillary Clinton und die Demokratische Partei die in Kansas begangenen Fehler auf dem Weg zu einer sicheren Wahlniederlage gegen Donald Trump wiederholten – oder besser gesagt verstärkten.

Es wäre vielleicht klug von Joe Biden, offen über den Krieg und seine verschiedenen Probleme für Amerika zu sprechen – und zu erklären, warum sich die geschätzten mehr als 150 Milliarden Dollar, die seine Regierung bisher aufgebracht hat, als eine sehr schlechte Investition erwiesen haben.

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