Wir sind doch alle für Frieden, heisst es oft in deutschen Talkshows, wenn die Befürworter von Waffenlieferungen und die Warner vor einer weiteren Eskalation des Krieges einander gegenübersitzen. Aber wollen wirklich alle Frieden? Sicher ist: Keiner will, dass der Krieg in der Ukraine auf Deutschland übergreift. Das eigene Leben, das seiner Familie und seiner Freunde will niemand aufs Spiel setzen. Aber was ist mit den Menschen, die täglich in der Ukraine sterben oder verletzt werden? Leiden wir wirklich mit ihnen? Trauern wir wirklich um sie?

Es gibt massive Gründe, daran zu zweifeln. Mit einem Bruchteil des Geldes, das für Rüstung und Krieg ausgegeben wird, könnte man den Hungertod in der Welt besiegen und das Leben von Millionen Menschen retten, ohne andere Menschen zu töten. Nicht Waffen retten Leben, wie die deutsche Aussenministerin im Verein mit der amerikanischen Waffenlobby sagt, sondern Nahrungsmittel und Medikamente.

Ehrenrettung der ARD

Sanktionen sind auch Massenvernichtungswaffen. Man denke nur an die 500.000 Kinder, die infolge der US-Sanktionen im Irak gestorben sind. Darauf angesprochen, rechtfertigte die ehemalige amerikanische Aussenministerin Madeleine Albright diesen Massenmord. «Auch ich stehe heute auf ihren Schultern», sagte Annalena Baerbock, als sie Albrights Wirken würdigte. Man stelle sich einen Moment vor, es wäre eine russische Aussenministerin gewesen, die den Tod von 500.000 Kindern so gerechtfertigt hätte.

Warum empfinden wir angeblich so viel Mitleid mit den Menschen in der Ukraine, während wir uns gegenüber den Opfern vieler Kriege in Nahost, zuletzt im Jemen, gleichgültig verhalten? Und warum beklagten wir die Toten des seit 2014 in der Ostukraine geführten Krieges weitaus weniger als die Opfer des Einmarsches der russischen Armee nach dem 24. Februar 2022? Zur Ehrenrettung der ARD, die heute wie die Mehrheit der deutschen Medien aufklärerischen Journalismus durch Kriegspropaganda ersetzt hat, sei gesagt, dass sie 2014 noch wusste: «Auch das ukrainische Militär terrorisiert die Bevölkerung. Es trägt den Krieg mit Artilleriefeuer in die Wohnungen und Schlafzimmer.»

Niemand ist berechtigt, das Leiden der Menschen in der Ukraine zu instrumentalisieren.

Unsere Fähigkeit, mitzuleiden, ist begrenzt, aber niemand ist berechtigt, das Leiden der Menschen in der Ukraine zu instrumentalisieren, um für eine Verlängerung des Krieges einzutreten. Das geschieht derzeit aber in Deutschland. Unter Verweis auf die Opfer des Krieges werden immer grössere Waffenlieferungen gefordert mit dem voraussehbaren Ergebnis, dass mehr Menschen in der Ukraine sterben werden und die Zerstörung des Landes immer weiter voranschreitet.

Nachdenkliche Stimmen, wie der Philosoph Jürgen Habermas, plädieren für Verhandlungen, um zu «verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt, entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen».

Genau darum geht es. Und weil die im Bundestag dominierenden Parteien SPD, Grüne, FDP und CDU/CSU mit dem wahrheitswidrigen Argument, Putin wolle gar nicht verhandeln, Verhandlungen ablehnen, brauchen wir dringend eine neue Friedensbewegung, die Druck auf das politische Berlin macht, um die zu immer grösseren Opferzahlen und zu zunehmender Zerstörung der Ukraine führende Politik der Bundesregierung durch eine auf Waffenstillstand und Friedensverhandlungen orientierte Politik zu ersetzen. Das umso mehr, als auch der deutsche Bundeskanzler in dieser entscheidenden Phase des Krieges versagt, wie nicht zuletzt sein kürzlicher Besuch bei Joe Biden gezeigt hat.

Es gab keine öffentliche Verurteilung der Zerstörung der Nord-Stream-Leitungen durch die USA, die schon lange fällig ist, weil die Urheberschaft Washingtons nur von völlig verblendeten Kriegstrommlern geleugnet werden kann. Es gab auch keine Proteste gegen die öffentlich vorgetragene Genugtuung des Aussenministers Antony Blinken und der Staatssekretärin Victoria Nuland über diesen Terrorakt. Und es fehlte auch eine klare Ansage, dass Deutschland sich von Joe Biden nicht noch einmal, wie bei der Lieferung von Kampfpanzern, vors Rohr schieben lässt, indem die USA versprechen, ebenfalls solche Waffen zu liefern, um die Zusage sofort wieder zu relativieren, nachdem Deutschland die Lieferung von Kampfpanzern öffentlich zugesagt hat.

Da der Oppositionsführer Friedrich Merz von der CDU zur Freude der Rüstungsindustrie – sein früherer Arbeitgeber Blackrock hat Rüstungsaktien im Portfolio – immer noch umfangreichere Waffenlieferungen fordert, kann nur eine neue, starke Friedensbewegung die gegenwärtige deutsche Aussenpolitik stoppen, die Hitlers Vernichtungskrieg und Gorbatschows Geschenk der deutschen Einheit vergessen hat.

«Deutschlands bellizistischer Tenor»

Warum haben deutsche Politiker keine Skrupel, wieder Waffen zu liefern, mit denen Russen getötet werden, nachdem nicht nur Millionen Ukrainer, sondern auch Millionen Russen nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion ihr Leben verloren? Und warum reiste kein deutscher Politiker nach Moskau, um Michail Gorbatschow die letzte Ehre zu erweisen? Der Krieg wird in Deutschland, wie Jürgen Habermas richtig erkannt hat, «angetrieben durch den bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen».

Die Friedenskundgebung von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht am Brandenburger Tor mit Zehntausenden Teilnehmern war ein hoffnungsvoller Auftakt, dieser Hälfte Gehör zu verschaffen. Uno-Generalsekretär António Guterres hat recht, wenn er warnt: «Die Welt schlafwandelt nicht in einen grösseren Krieg hinein – sie tut dies mit weitgeöffneten Augen.»

Oskar Lafontaine war Vorsitzender der SPD und Finanzminister Deutschlands.