Davos
Der Krieg in der Ukraine tobt. Die Russen scheinen im Donbass auf dem Vormarsch. Sie verfügen über gewaltige Reserven. Waffenlieferungen und Sanktionen aus dem Westen konnten sie bis jetzt nicht stoppen. Doch Putin hat sich und die Welt in eine extrem gefährliche Lage manövriert. Er darf nicht verlieren, kann aber auch nicht gewinnen. Das Töten geht weiter. Auf beiden Seiten sterben Tausende, eine «Blutmühle» wie im Ersten Weltkrieg. Eine nukleare Katastrophe bleibt denkbar.
Deshalb braucht es Frieden, dringend. Am Davoser Weltwirtschaftsforum plädierte der 99-jährige Nobelpreisträger Henry Kissinger für einen Waffenstillstand, um eine weitere Eskalation und ein atomares Inferno zu verhindern. Wir fügen hinzu: Die Schweiz sollte ihre Sanktionen gegen Russland sofort aufheben. Sie muss zurück zur bewährten Neutralität. Der Ausstieg aus dem Wirtschaftskrieg würde der Schweiz Respekt verschaffen und ihre Glaubwürdigkeit als Friedensvermittlerin stärken.
Die moderne schweizerische Neutralität hatte ihre erste grosse Zeit im 19. Jahrhundert. Damals konkurrierten in Europa die Grossmächte. Kritiker argumentieren, in einem vereinigten Europa habe die Neutralität ihren Sinn verloren. Das ist zu kurz gedacht. Erstens können, gerade durch den Ukraine-Krieg, auch in Europa jederzeit Konflikte aufbrechen. Zweitens konkurrieren die Grossmächte wieder und nach wie vor, weltweit, nicht mehr nur europaweit.
Ein bewährter schweizerischer Grundsatz lautet «Leben und leben lassen».
Die Neutralität ist so aktuell wie nie. Doch Medien und Politik wollen glauben machen, es gebe für die Schweiz nur noch die fugenlose Einbettung in «den Westen». Es gelte, die «Autokratien» und «Diktaturen» des «Ostens» in Schach zu halten. Zwischen den Blöcken könne, dürfe es keine Neutralität mehr geben. Schliesslich sei die Schweiz ein westlicher Staat, eine Demokratie, ein freiheitliches Land. Indem sie sich neutral verhalte, werde die Schweiz zur Magd der Despotie.
Wer so redet, hat das Wesen der schweizerischen Neutralität nicht verstanden. Unparteilichkeit ist das Gegenteil von Parteinahme. Im Zweiten Weltkrieg stand die Schweiz politisch und moralisch auf der Seite der Alliierten. Führende Neutralitätsverfechter wie FDP-Nationalrat Willy Bretscher oder FDP-Bundesrat Walther Stampfli waren felsenfeste Nazi-Gegner. Gleichzeitig verteidigten sie pickelhart die «unbedingte Gleichbehandlung aller Kriegsparteien». Kein Widerspruch.
Zudem: Der Ukraine-Krieg ist komplexer, als Medien und Politik behaupten. Geopolitische Interessen prallen aufeinander. Die Amerikaner betreiben seit Jahren die faktische Nato-Integration der Ukraine mit dem Ziel, Russland strategisch zu schwächen. Die belagerten Russen wehren sich gegen die US-Dominanz und Nato-Raketenbasen vor ihrer Haustüre. Kiew entfesselte, bereits vor acht Jahren, einen mörderischen Bürgerkrieg im Osten und verletzte durch Militärbündnisse mit Washington internationales Recht.
Der Krieg in der Ukraine hat viele Schuldige, nicht nur einen. Auch deshalb sollte sich die Schweiz ihre Aussenpolitik nicht von westlicher Propaganda diktieren lassen. «Westen» – das Wort hatte ohnehin schon einen besseren Klang. Die durch den Aufstieg Chinas verunsicherten Amerikaner sind vom Garanten zum Risiko für den Weltfrieden geworden. Ihre Weltbeglückungsallüren werden auf manchen Kontinenten weniger als Verheissung denn als Zumutung empfunden.
Zivilisationen sind Organismen, sie haben Geschichte und Gedächtnis, Erfahrungen, Techniken des Überlebens, ihre Geografie, aus denen ihre Werte und Ordnungen, ihre Seele herausgewachsen ist. Jede Zivilisation hat das Recht auf ihr eigenes Welt- und Wert-Gefühl. Täuscht der Eindruck, oder sind wir im Westen wieder einmal dabei, dem grossen Rest der Welt unsere Vorstellungen aufzunötigen? Die Bereitschaft, andere Kulturen zu akzeptieren, lässt nach.
Solche Überheblichkeits-Anwandlungen sollte sich die Schweiz nicht zu eigen machen. Wir sind das Musterbeispiel für ein Land der Vielfalt, der unterschiedlichen Kulturen. Ein bewährter schweizerischer Grundsatz lautet «Leben und leben lassen». Wir haben weder mit den Russen Krieg noch mit China und übrigens auch nicht mit dem Iran. Es ist gefährlich, wenn wir uns für amerikanisch-westliche Feldzüge einspannen lassen, die dem Frieden und unseren Interessen schaden.
Mag sein, dass die Amerikaner tun müssen, was sie tun zu müssen glauben. Die Schweiz ist keine Moralschiedsrichterin. Sie hält sich zurück. Und sie darf das auch. Die schweizerische Neutralität, das Privileg, sich aus den Kriegen Dritter herauszuhalten, ist im Völkerrecht verankert. Es braucht nur die Kraft, die eigenen Werte auch in stürmischen Zeiten hochzuhalten. Die Schweiz sollte die Russland-Sanktionen aufheben. Zurück zu unserer bewährten, weltweit bewunderten Neutralität! R. K.
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Interessant in diesem Zusammenhang: Wir fordern von den eigenen Reihen keine „kulturelle Aneignung“, fordern dies aber gegenüber dem Rest der Welt???
Nah, Herr Köppel. Das ist kein Schweizer Grundsatz per se sondern ein Grundsatz derer, die mehr als drei Gehirnzellen ihr eigen nennen können. Es kann jedoch gut sein, dass die Schweiz überproportional viele Menschen mit diesem Merkmal hat, die verstehen, dass Grundsätze universell, immer und überall ihre Geltung haben sollten. Es gibt jedoch auch einige Amöben in anderen Ländern, die für sich einen Exzeptionalismus beanspruchen und somit Grundsätze geflissentlich über Bord werfen.
...Und aus welchen Gründen verabschiedeten sich die Schweizer von diesem bewährten Grundsatz? Dass dieser, & nicht nur dieser Grundsatz in D seit Jahrzehnten für die Ur-Bevölkerung ohne Doppelpass&Einbürgerungen überhaupt nicht mehr gilt, ist weltweites Allgemeinwissen. Die in den letzten Monaten veröffentlichten Medienberichte & Videos, aus der angeblich neutralen Schweiz mit Volksentscheiden, bescheren mir "Hummel Titten" = Gänsehaut am ganzen Körper & ich werde unruhig wg. dem "zuviel LINKS"!
Da helfen auch die vielen Erklärungsversuche und Ukraine Bashing nichts. Wer den Despoten nachgibt geht in die nächste Runde.
Die Nato ist ein Verdeidigungsbündnis eben gegen Putins und deren Versteher gedacht